Theater:Haste mal 'ne Kippe?

Tolstois Roman "Auferstehung" wird zum Ensemblestück in Potsdam. Darin der Mensch, den sich der Autor immer wünschte.

Von Mounia Meiborg

Erst in seinem letzten Roman schuf Leo Tolstoi den Menschen, wie er ihn sich wünschte. Die ersten beiden Romane, "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina", erzählen von Sankt Petersburger Salons, von Menschen, die klatschen, tratschen und ihre Ehepartner betrügen. In "Auferstehung" dagegen beschreibt Tolstoi das Ideal, das er selber nie erreichte. Ein Fürst steigt aus. Er verschenkt Hab und Gut, zieht nach Sibirien und stellt die Ordnung - hier Bauern, dort Gutsherren - so radikal infrage, dass er auf Ablehnung stößt.

Während seine ersten beiden Romane in keinem bildungsbürgerlichen Bücherschrank fehlen, ist "Auferstehung" relativ vergessen. Das ist vielleicht kein Zufall: Die Figuren sind nicht ganz so genau beobachtet, der Tonfall ist manchmal pastoral, und der feine, nachsichtige Tolstoi-Humor nur spärlich gesät. Im Theater war "Auferstehung" in Deutschland zuletzt in den Fünfzigerjahren zu sehen. Nun hat Tobias Wellemeyer sich am Potsdamer Hans-Otto-Theater den Stoff vorgenommen.

Die Bühne von Harald Thor ist großartig düster, eine Mischung aus "Fight Club" und "Endstation Sehnsucht". Links stehen drei Straßenlaternen, die fahles Licht verbreiten, rechts ist ein Brett aus dem Bühnenboden gerissen. Erde quillt daraus hervor. Eine offene Wunde. Und unfertig wie das Leben, um das es hier geht.

Da ist Dimitrij Nechliudow, ein reicher Fürst. Früher, als Student, hat er sich mit sozialen Fragen beschäftigt. Längst sind die in seinem Alltag zwischen parfümierten Briefen und opulenten Diners untergegangen. Zufällig trifft er vor Gericht Katharina Maslowa wieder, in die er als Jugendlicher verliebt war, die er später verführte - und dann sitzen ließ. Sie ist im Bordell gelandet und wird des Mordes an einem Freier angeklagt. Nechliudow fühlt sich schuldig. Er engagiert für sie Anwälte, will sie heiraten, was sie ablehnt, verschenkt sein Geld und folgt ihr nach Sibirien.

Viel schärfer als Dostojewski in "Die Brüder Karamasow" kritisiert Tolstoi in "Auferstehung" die Willkür der russischen Justiz. Der Roman durfte 1899 nur zensiert erscheinen. Maslowa wird nicht für eine Tat verurteilt, sondern für ihren sozialen Stand. Verwaltung und Militär unterdrücken die Menschen. Und die Kirche vertröstet sie aufs Jenseits und stützt das System. Tolstoi setzt dem eine irdische Auferstehung entgegen: ein Leben frei von Besitz und Begierden, voller Nächstenliebe. Quasi eine Neuauflage der Bergpredigt.

Aus 600 Romanseiten werden drei kurzweilige Stunden Theater. Die Bühnenfassung von Remsi Al Khalisi verteilt die Passagen klug auf die Figuren. Zwei rauchende Prostituierte sprechen herrlich abgeklärt Tolstois Bemerkung über die Menschen, die trotz der im Frühling erwachenden Natur so schlecht sind wie eh und je: "Nur die Menschen, die großen erwachsenen Menschen hörten nicht auf, sich und einander zu betrügen und zu quälen."

Die Figuren reden übereinander. Besonders bei Nechliudow macht das Sinn. Es ist der strenge Blick der Gesellschaft, die keine Abweichung von der Norm duldet. Bei Wolfgang Vogler wird Nechliudow zu einem etwas verklemmten, ungelenken Zweifler. Seine Wandlung vom Saulus zum Paulus kommt ziemlich plötzlich. Verzückt schaut er in die Luft. Woher er, der frühere Mitläufer, die Energie nimmt, sich gegen alles und jeden zu stellen, ist nur zu erahnen. Von den fanatischen Zügen, die der Visionär Nechliudow - ähnlich wie Ibsens "Volksfeind" - auch in sich trägt, ist bei Vogler nicht viel zu sehen.

Meike Finck spielt Maslowa ganz konkret, eine Frau, die stets auf ihren Vorteil bedacht ist. Noch im Gefängnis bezirzt sie für ein paar Zigaretten die Männer. Sie tut das mit einem solchen Charme, gepaart mit der rotzigen Haltung des Underdogs, dass man ganz auf ihrer Seite ist.

Star des Abends aber ist das Ensemble. Zehn Schauspieler übernehmen insgesamt 50 Rollen; Dienstmädchen, politische Gefangene, Richter und Minister-Gattinnen. Um subtile Charakterstudien geht es dabei nicht. Sondern um ein Gesellschaftspanorama, das einem spielfreudig und mit großer szenischer Fantasie um die Ohren geknallt wird.

Die Abendgesellschaft kurvt in Rokoko-Kleidern auf Rollschuhen über die Bühne. In einem Container werden Flüchtlinge verwahrt. Im Gerichtssaal wimmelt es von Typen, die ihre Menschenverachtung hinter schicken Anzügen verstecken. Auch wenn Unterdrückung heute anders funktioniert als zu Tolstois Zeiten: Aus dem Aussteigerroman wird ein überraschend aktueller Theaterabend.

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