Theater:Hans im Unglück

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Abrechnung mit dem Leistungsdruck: Hermann Hesse schildert in "Unterm Rad" sein eigenes "leidensschweres Schülertum". Am Schauspiel Stuttgart gerät die Erzählung selbst unter die Räder.

Von Adrienne Braun

Im Internet können Schüler vor der Klassenarbeit den Schnelltest machen. Frage: Warum ist Hans dem Schulstress nicht gewachsen? Weil er übertrieben ehrgeizig ist? Oder weil er sich zu viel bei der Schülerzeitung engagiert hat? Die Deutschschüler, die sich die Lektüre von Hermann Hesses Erzählung "Unterm Rad" sparen wollen und sich lieber auf den Theaterbesuch verlassen, könnten bei der Klausur ins Straucheln kommen. Denn im Stuttgarter Schauspiel - in der Spielstätte Nord - hat man zwar Hesses Erzählung über den Schüler Hans Giebenrath auf die Bühne gebracht, bloß: Einen Hans gibt es in der Inszenierung nicht mehr, auch keinen Vater, keine Lehrer. Nur fünf Clowns, fünf dumme Augusts, die bestenfalls vage ahnen lassen, dass Antwort c die richtige gewesen wäre: Hans scheitert, weil man ihm die Kindheit geraubt, ihn getriezt und gedrillt hat, bis er unter dem Erwartungs- und Leistungsdruck zusammenbricht. "Oh, du lieber Augustin", singt er, "alles ist hin."

Das Stuttgarter Schauspiel hat sich in der vergangenen Saison an einigen Prosatexten abgearbeitet, hat Romane von Clemens Meyer, Wilhelm Raabe und Emile Zola dramatisiert, Thomas Manns "Zauberberg", Dostojewskis "Der Idiot", Goethes "Leiden des jungen Werther" - mit oft mäßigem Erfolg. Zum Ende der Saison dokumentiert der Intendant Armin Petras noch einmal, dass er von zeitgenössischen Dramatikern offensichtlich keine spielenswerten Stoffe mehr erwartet, sondern lieber von der Dramaturgie Film- und Romanvorlagen zurechtstutzen lässt. Aus "Unterm Rad" wurden nun ein paar Dutzend markante Sätze herausdestilliert. Hans' Leidensweg ist auf die Zeit im Evangelischen Seminar Maulbronn reduziert, jenem Ort, an dem Hesse selbst lernte und litt. Sein "Maulbronn-Trauma" nannte er es.

In "Unterm Rad" hat Hermann Hesse sich sein eigenes "leidensschweres Schülertum" von der Seele geschrieben, die Dressur durch Lehrer, die "mit einem Hass auf ihren Beruf geladen zu sein schienen, den sie gern an den Schülern ausließen", wie er meinte. Manch Biografisches klingt in dem Frühwerk an, Hesses Flucht aus dem Seminar, sein Selbstmordversuch, die Sehnsucht nach der Natur. Glück erlebt sein Hans nur am See, wenn er schwimmt, taucht, rudert, angelt - weshalb der Bühnenbildner Michael Köpke die Bühne unter Wasser gesetzt hat. Die fünf Clowns waten, rollen, planschen durchs knöchelhohe Nass, das auf das Ende von Hans Giebenrath hinweist: Er ertrinkt im Fluss. War es Selbstmord? "Niemand wusste auch, wie er ins Wasser geraten sei."

Der Regisseur Frank Abt erzählt das Schicksal des begabten Kindes, das dem Erwartungsdruck nicht standhält, erstaunlich ungerührt und teilnahmslos. Die fünf dummen Augusts teilen sich den Text untereinander auf, sodass oft nicht klar ist, wer gerade spricht. Dadurch bekommen die Figuren kein Gesicht. Sebastian Röhrle, Matti Krause, Andreas Leupold, Florian Rummel und Christian Czeremnych werden zu seelenlosen Sprechern degradiert - statt sie zu Akteuren zu machen in diesem gnadenlosen Spiel um Macht und Ohnmacht. "Fallen ist keine Schand', aber liegen bleiben", wird einmal der Vater zitiert, aber da alle und keiner Hans ist, fehlt der Adressat - so bleiben die Worte nichts als eine dahergeplapperte Sentenz.

Die Regie nutzt den Text als Vorlage, um einzelne Stichworte mit den Mitteln des Theaters illustrieren zu können. Mal wird gesungen, mal improvisieren die Schauspieler oder führen kleine Kunststückchen auf, schlucken die eigene Faust und spucken Wasser. Mit Kreide wird ein Hasenstall an die schiefergrauen Wände gekritzelt - ohne auszuführen, dass Hans einen solchen zertrümmert, bevor er zum Landexamen antreten muss. "Die wochenlange Trennung hatte beide verändert", heißt es später über die Freundschaft zwischen Hans und Hermann Heilner, von der allerdings nicht mehr gezeigt wird als ein scheuer, flüchtiger Kuss.

"Unterm Rad", erschienen 1906, polarisierte. Zu keinem Werk bekam Hesse so viele empörte Briefe wie zu dieser Abrechnung mit der Pädagogik. Selbst wenn Psychologen herausgefunden haben wollen, dass die Generation Millennial zwar von Geld und Luxus träumt, sich Ehrgeiz und Einsatzbereitschaft bei den heute Zwanzigjährigen aber in Grenzen halten, ist die Diskussion um Leistungsdruck nach wie vor hochaktuell und könnte als Bühnenstoff Schüler wie Eltern berühren. Der Regisseur Frank Abt wollte letztlich aber nichts von einer gestohlenen Kindheit erzählen, vielmehr drängt sich sein Theater wie der Klassenstreber in den Vordergrund und nimmt sich wichtiger als die Figuren und ihre Schicksale. So ist es am Ende nicht etwa Hans Giebenrath, der unter die Räder kommt, sondern Hesses Erzählung.

© SZ vom 14.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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