Theater:Fluchtschmerzen

Fulminanter Saisonauftakt am Schauspielhaus Hamburg: Katie Mitchell macht aus Herta Müllers erstem Roman einen Live-Film aus dem Westberlin der Achtziger. Und im Malersaal gibt es Fontanes "Effi Briest" als Radio-Show.

Von Till Briegleb

Waren die Achtziger wirklich ein so fremdes Land? Eine Welt der gelben Telefonzellen, in denen groß stand: "Fasse dich kurz!", der farblos gefliesten S-Bahnhöfe mit Passfotoautomaten, wo vier Aufnahmen zwei DM kosteten, und der bröckelnden Hinterhof-Fassaden, die in West-Berlin so fertig aussahen wie in der Zone? Für den Schwarz-Weiß-Theaterfilm "Reisende auf einem Bein", den die Regisseurin Katie Mitchell zum Saisonauftakt am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg live auf der Bühne dreht, ist die alte BRD-Kulisse vor dem Mauerfall jedenfalls arm, rissig und grob. Eingefroren in der Nachkriegstemperatur des Kalten Krieges scheint diese Zeit viel näher am deutschen Obrigkeitsstaat zu siedeln als am jetzigen Mutti-Deutschland ohne Staatsgrimasse.

Es ist Herta Müllers 1987, das hier so detailverliebt rekonstruiert wird. Zwei Jahre vor Ende des Kommunismus durfte die Rumäniendeutsche aus Ceaușescus Überwachungsstaat nach West-Berlin ausreisen - und fühlte sich doch nicht frei. In ihrem ersten Roman mit dem "einbeinigen" Titel beschreibt die spätere Nobelpreisträgerin den unglücklichen Zwischenzustand doppelter Fremdheit, in dem sie weder alte noch neue Heimat empfinden konnte. Die westliche Freiheit betrachtete sie mit einem "verformten Blick", der die "Intakten", die hier lebten, in ihrer traurigen Sorglosigkeit nicht verstand.

Katie Mitchell hat Müllers Erstling, der die vorsichtige Eroberung der inneren und äußeren Mauerstadt als Collage aus Gedanken und Fotografien beschreibt, mit ihrem zweiten Roman "Herztier" kombiniert, um mehr Handlung zu gewinnen. Darin erzählt Müller - wieder stark mit eigenen Erfahrungen gefärbt - die Geschichte eines Freundeskreises Banater Schwaben und dessen Aufreibung in der sozialistischen Diktatur, die zu Angst, Kompromittierung und Selbstmord führt. Mit einigem Geschick komponieren Mitchell und ihre Dramaturgin Rita Thiele aus den zwei Romanen ein neues Schauspiel, das die Geschichte eines Verrats erzählt, der weder im Zentrum des einen noch des anderen Herta-Müller-Romans steht.

Katie Mitchell macht aus Herta Müllers Roman einen Misstrauensfilm - live im Theater

Aber Katie Mitchell geht es um die Bühnenrekonstruktion jenes misstrauischen Klimas, das Diktaturen gezielt unter ihren Bürgern verbreiten, das diese irgendwann zwangsläufig verinnerlichen und mit dem sie auch als Geflüchtete fernab der Heimat in paranoider Angst vor Verfolgung gehalten werden können. Und deswegen erzählt Mitchell in ihrem Stück von einer Frau, die in all ihren Bezugspersonen irgendwann den Verrat zu erkennen meint - und im intimsten Fall leider zu Recht. Denn auch ihre Freundin Dana (Ruth-Marie Kröger), angereist aus Rumänien, ist in dieser Welt paranoider Kontrolle fähig, zum Werkzeug jener gezielten Verunsicherung zu werden, die sich zynischerweise Securitate nennt.

Ute Hannig, Markus John (hinten: Michael Wittenborn, Clemens Sienknecht) © Matthias Horn

Auf dem Foto unten sieht man einige der "Effie Briest"-Entertainer.

(Foto: Matthias Horn)

In einer dichten Bilderzählung auf zahlreichen kleinen und großen Filmsets rückt Mitchell Julia Wieninger als Müllers Alter Ego Irene so groß in Szene, dass trotz des aufdringlich sichtbaren Handwerks eine bedrückende Illusion von Angstpolitik, Verbitterung und menschlichen Qualen entsteht. Obwohl Schauspieler und Kameraleute ständig hektisch hin und her rennen zwischen einem kleinen Schwarzmeerstrand am Bühnenrand und einer großen Berliner Hinterhoffassade, einer kalten Bahnhofsbank und einer kargen Übergangswohnung, einer Prüfstelle A, hinter der sich der BND versteckt, und einem rumänischen Verhörkeller (Bühne: Alex Eales, Kostüme: Laura Hopkins), fügt der groß projizierte Gesamtfilm die Dreharbeiten zu einem kompakten Stück dokumentarischer Erinnerungsarbeit - das abseits der gekonnten Rekonstruktion eines historischen Moments viel darüber erzählen mag, wie sich syrische und irakische Flüchtlinge heute trotz des Entkommens aus ihrem Terrorregime in Deutschland fühlen.

Und im Malersaal gibt es "Effi Briest" als fabelhaft unterhaltsame Radio-Show

Zu einem gelungenen Auftakt gehören aber immer zwei, in diesem Fall zwei Premieren. Wenn auch von völlig anderem Temperament, so ist auch "Effi Briest" als Radio-Show, wie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk die Roman-Adaption im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses abfeuern, eine Retro-Veranstaltung. Alt gewordene Freaks in einem gemütlichen Studio mit Stehlampen und Palmenprospekt (Bühne und Kostüme: Anke Grot) ziehen Werbe-Jingles, Oldies, beliebte Tänze und den Fundus vergangener Moden zurate, um Theodor Fontanes trocken erzählte Seitensprung-Tragödie in einen Schmunzel-Hit zu verwandeln. Alle Register von Running Gags zu Sarkasmus, Slapstick und Parodie, Kalauern, absichtlichen Versprechern und Tierlauten werden in perfektem Timing gezogen, um aus Effis Geschichte eine geniale Unterhaltungsshow zu machen, "allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie", wie der Untertitel es richtig benennt.

Doch das wirklich Erstaunliche an der scheinbaren Verhohnepipelung ist, dass Geschichte, Konflikte und Stimmungen dieses protestantischen Unliebesromans vollkommen sicher getroffen werden. Bei all den feinen Drehungen ins Satirische wird nie der traurige Kern der Figuren geopfert, die aus Tugendsteifheit die Tragik ihres Handelns nicht ermessen. Musik, Scherz und feine Ironie sind hier frei von Verrat. Das ist literarischer Sicherheitsdienst, dessen Verhörmethoden herzlich willkommen sind.

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