Theater:Flirt mit dem Smartphone

Theater: Big Data macht die Leute verrückt: (v. l.) Lisa Heinrici, Daniel Christensen, Ines Krug und Jan Pröhl bei der Uraufführung in Essen.

Big Data macht die Leute verrückt: (v. l.) Lisa Heinrici, Daniel Christensen, Ines Krug und Jan Pröhl bei der Uraufführung in Essen.

(Foto: Martin Kaufhold)

Bühne frei für Big Data! Der Saisonstart am Schauspiel Essen.

Von Cornelia Fiedler

Das "Save Harbour"-Abkommen ist abgeschmettert, Erleichterung macht sich breit. Nein, Server in den USA sind kein "sicherer Hafen" für die Daten europäischer Nutzer, das entschied der Europäische Gerichtshof am Dienstag. Begründet wird das Urteil aber nicht mit der Datensammelwut von Google, Amazon, Facebook und Co. sondern damit, dass amerikanische Geheimdienste Zugriff haben. Die Firmenpolitik großer Internet-Konzerne wird das also kaum tangieren. Ihnen erlauben wir ja freiwillig, sämtliche Fotos, Suchanfragen, Adressen und Standortdaten zu nutzen, ein kleines Häkchen in den AGBs bezeugt dies. Das Geschäftsmodell Big Data lebt so weiter, und es wird uns weiter massiv beeinflussen. Wie, das erforscht Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer zum Spielzeitstart am Essener Grillo-Theater mit der Uraufführung "Ich habe nichts zu verbergen - Mein Leben mit Big Data".

Erster Eindruck: Big Data macht die Leute verrückt. Im klassischen Sitcom-Setting aus Sofa, Couchtisch und Küchenzeile flirtet Teenager Lisa (Lisa Heinrici) mit ihrem neugierigen, menschgewordenen Smartphone (Raphaela Möst), ihre Mutter, eine depressive Kassandra im Morgenmantel (Ines Krug), serviert Cookies. Daniel Christensen hüpft als Vater Jaron wie ein Gummiball mit Dreadlocks: er predigt den Datenschutz - frei nach dem Vorbild des Informatikers Jaron Lanier, der vom Vordenker virtueller Realitäten zu einem ihrer Kritiker wurde.

Diese Dichotomie durchzieht die Inszenierung: Ja, klug eingesetzt können Algorithmen helfen, von der Früherkennung schwerer Krankheiten bis hin zur gerechten Verteilung von Nahrung. Und ja, sie ermöglichen eine Überwachung und Steuerung des Privaten in ungekanntem Ausmaß. Deshalb wettert Jaron so lautstark wie ohnmächtig gegen die Umsonst-Kultur im Netz. "Du zahlst mit deiner Arbeit! Du bist ein Clickworker, der im Akkord Datenspuren einspeist. Du füllst und beschriftest ihre Datenbanken", bringt er die ökonomischen Bedingungen der Social-Media-Kultur in klaren, einfachen Worten auf den Punkt.

Schmidt-Rahmer und seine Dramaturgin Carola Hannusch entwickeln eine wilde Szenencollage, vielseitig aber ohne plastische Struktur. Da werden Soziometer vorgeführt, vernetzte Minicomputer zur Analyse von sozialer Interaktion und Bewegungsabläufen. Sie dienen real dazu, Arbeitsprozesse zu optimieren, dass sie auch zum Mobbing-Tool mutieren können, ist kalkuliert. Der Optimierungswahn soll nun auf das Theater an sich übertragen werden, doch anstatt sich dem Selbstversuch einer App für Publikumsreaktionen auszusetzen, werden nur Umfragewerte eingeblendet und ein einzelner Zuschauer überwacht. Hier fehlt es an der Konsequenz, aber auch an den finanziellen Mitteln, um die Folgen der Digitalisierung für unser Welt- und Menschenbild am Theater adäquat erforschen zu können.

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