Theater:Faust und wir

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Ein großartiges Buch zu Frank Castorfs letzter großer Inszenierung: Wie hast Du's mit dem Kapitalismus, Faust? Und mit der Kolonialgeschichte Europas?

Von Christine Dössel

Zu der siebenstündigen "Faust"-Inszenierung, die Frank Castorf letzte Woche sehr frei nach Goethe an der Berliner Volksbühne herausgebracht hat, ist ein kleines Beibuch erschienen (Alexander Verlag Berlin). Es hat das Format 14 x 12 cm, liegt durchblätterfreundlich in der Hand, zeigt auf dem Cover eine Kodak-"Funsaver"-Einwegkamera (für das Festhalten des schönen Augenblicks) und trägt den hinter(teil)gründigen Titel: "Wie man ein Arschloch wird".

Nein, der belgische Museumsmann Chris Dercon, Castorfs umstrittener, von vielen heftigst ungeliebter Nachfolger als Theaterintendant am Rosa-Luxemburg-Platz, ist hier nicht gemeint! Das Büchlein, herausgegeben vom langjährigen Volksbühnen-Chefideologen Carl Hegemann, versteht sich vielmehr als "Crashkurs in faustischem Denken, das nach 200 Jahren vielleicht gerade an sein Ende kommt". Ein kleiner Theorie-Guide also, wie man am schnellsten vom Himmel durch die Welt in die Hölle seiner Triebe gelangt - am Beispiel des Ego-Shooters Dr. Heinrich Faust. Dieser, ein verzweifelter Intellektueller, will sich erst umbringen, besinnt sich dann jedoch eines anderen und beschließt, dass es künftig nur noch um ihn gehen soll, um die rücksichtslose Durchsetzung seiner Interessen. Daher der Pakt mit dem Teufel. Wie dieser "individualegoistische Aufbruch zum Tatmenschen" (Hegemann) mit der "zwielichtigen Erfolgsgeschichte des kapitalistischen Geistes" korrespondiert, insbesondere mit der Ausbeutervergangenheit Europas, ist Thema des kleinen Bandes. Untertitel: "Kapitalismus und Kolonisierung".

Der Dramaturg Carl Hegemann hat in Verbindung mit den Theaterarbeiten Castorfs schon früher solche Denk-Büchlein mit klugen Aufsätzen herausgegeben: die Reihen "Kapitalismus und Depression" und "Politik und Verbrechen". Im aktuellen "Arschloch"-Buch kommen neben dem unvermeidlichen Boris Groys (den Hegemann zu "Trump & Co" interviewt) auch der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger (mit seiner "geldtheoretischen Faust-Deutung") und die Romanistin Irene Albers (mit einem Beitrag über den französischen Ethnografen und Antikolonialisten Michel Leiris) zu Wort. Auch Castorf selbst äußert sich zum "Faust". Wer das liest, versteht seine Inszenierung umso besser.

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