Theater:Familienaufstellung mit Erdoğan

Nurkan Erpulat versucht, in "Love it or leave it" am Berliner Maxim-Gorki-Theater eine Diagnose der Türkei. Die gerät aber zu possierlich.

Von Peter Laudenbach

Das hätte ein spannender Abend werden können. Nurkan Erpulat, bekannt geworden durch seine Inszenierung "Verrücktes Blut" und seitdem ein wenig in Vergessenheit geraten, versucht am Berliner Maxim-Gorki-Theater zusammen mit dem Dramaturgen Tunçay Kulaoğlu eine Tiefenanalyse der Türkei. Mit seiner Inszenierung "Love it or leave it" verspricht Erpulat nicht weniger, als "hinter die Fassaden einer Republik, die sich seit ihrer Gründung in einem Teufelskreis zu befinden scheint", vorzudringen. Wenn man es einem Theater zutraut, den politisch-mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund dieses Landes auf dem Weg in die Diktatur mit Mitteln der Kunst konturscharf auszuleuchten, dann dem recherchestarken und kampferprobten Gorki. Leider verwechselt Erpulat Slapstick, nette Absurditäten und Kabarett mit politischem Theater.

Die Bühne von Alissa Kolbusch: ein sich nach hinten verengendes, gekipptes Schlaf- und Wohnzimmer, in dem so einiges nicht stimmt. Aus einem Abgrund im Teppich dampft es bedrohlich, von einem Foto blickt Staatsgründer Atatürk grimmig auf das Bühnengeschehen. Ein offenbar manisch-depressiver Musiker (Philipp Hagen) malträtiert das Harmonium mit seiner schlechten Laune. Als sich Lea Draeger in unerbittlichen Endlosschleifen durch "The End" von den Doors singt, orientiert sich ihr Harmonium-Begleiter an der todessehnsüchtigen Zombie-Version des Liedes in der Interpretation der Heroin-Chanteuse Nico. Kein Wunder, dass die Insassen dieser guten Stube des Grauens wie gelähmt wirken. Wie um sich die still gestellte, eingefrorene Zeit zu vertreiben, rühren sie in ihren Teegläsern, rauchen oder versuchen ein scheues Tänzchen.

Wer nach der Bananenstaude mit dem EU-Logo greift, kriegt einen Stromschlag

Auch an drastischen Symbolen fehlt es nicht. Vom Bühnenplafond baumelt ein dicker weißer Strick, der am Hals einer Dame im roten Kleid (Aylin Esener) endet. Ihr bleibt nur, unverwandt ins Publikum oder in eine wenig erfreuliche Zukunft zu blicken. Auch ihre gedehnten Tanzbewegungen künden nicht unbedingt von Lebensfreude. Selbstverständlich wird sie im Lauf des Abends versuchen, sich an ihrem Strick zu erhängen, und selbstverständlich gelingt ihr nicht einmal das. Vermutlich sollen die liebevoll ausgestellten Grotesken des Stillstands und der Enge auf das bedrückende Klima unter Erdoğan verweisen. Aber natürlich könnten sie ebenso gut die Sinnlosigkeit des Lebens als solches, die Midlife-Krisen der Beteiligten oder einfach die Tatsache, dass es Männer und Frauen nicht immer leicht miteinander haben, dekorativ illustrieren. Die Bilder, die diffus poetisch sein sollen, sind vor allem possierlich und arg beliebig.

Etwas direkter wird Erpulat, wenn ein autoritärer Gast, halb Therapeut, halb Islamgelehrter, eine Familie mit seinen freundlichen Befehlen so lange erzieherisch drangsaliert, bis die patriarchalische Angstordnung wiederhergestellt und jedes Familienmitglied bis ins Mark gedemütigt ist: Familienaufstellung à la Erdoğan. Andere Szenen sind von ähnlicher rührender Plakativität. Die Bananenstaude, die statt eines Kronleuchters über den Köpfen der Wohnzimmerinsassen baumelt, schmückt das blaue EU-Logo. Immer, wenn jemand gierig danach greift wie nach dem EU-Beitritt, erwischt ihn ein Stromschlag. Wenn das mal keine subtile politische Analyse ist! Dass auch der Liebesleidenschaft in autoritären Regimen enge Grenzen gesetzt sind, erlebt ein junges Paar, das gerade wollüstig übereinander herfallen will. Aber dann pochen Nachbarn wie die Stellvertreter bigotter Mullahs gegen die Tür und brüllen so lange "Ruhe!", bis die schönste Libido erlischt, wie die Freiheitsrechte in einem Polizeistaat schwinden. Eine der wenigen Passagen, die über solche Allgemeinplatz-Metaphern hinausweisen, verdankt die Inszenierung Küçük İskenders Gedicht "Türkiye", ein Hass-Liebesgesang, der klingt wie die wütende türkische Variante des "Amerika"-Poems des Beat-Dichters Allen Ginsberg.

Es bekommt der Inszenierung nicht sehr gut, dass Erpulat sie als Diagnose der autoritären Strukturen und Deformationen der Türkei verstanden wissen will. Angesichts des beängstigenden Realgeschehens in Erdoğans Staat wirkt das Stück wie eine selbstverliebte Petitesse, der ihr vorgebliches Thema nur als Bedeutungsverstärkung und Vorwand für die eigenen, kunstfertig vorgeführten Pirouetten dient.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: