Theater:Erotischer Abend

Theater: Lucy Wilke (rechts) und Pawel Dudus in "Fucking Disabled".

Lucy Wilke (rechts) und Pawel Dudus in "Fucking Disabled".

(Foto: Robert Haas)

"Fucking Disabled" in den Pathos Ateliers

Von Sabine Leucht

Ihre Stimme ist zuerst da. Sie gurrt und schmeichelt und setzt sich dem Zuschauer auf den Schoß, der in den Pathos Ateliers gerade das Mikrofon in der Hand hält: "Du bist wirklich sehr stark!... Also mich macht das total an." Als sexuelle Telefondienstleisterin käme Lucy Wilke prima über die Runden. Ist sie schließlich leibhaftig auf der Bühne, lässt sie aus ihren riesigen Augen Blitze schießen, die einen von Kopf bis Fuß durchzucken. Außerdem sitzt die mit einer spinalen Muskelatrophie geborene Sängerin im Rollstuhl und ist das energetische Zentrum von David von Westphalens Performance "Fucking Disabled": Einem Abend über Behinderte und ihre Lust auf Sex, der - als Enttabuisierungsversuch angetreten - eine Lehrstunde über das Wesen der Erotik geworden ist.

Frei nach dem Motto "Alles ist erotisch!", stellt der spastisch gelähmte Danijel Sesar seinen Körper vor - von "Diese Glatze ist frisch poliert" bis "Dieser Arsch ist knackig". Und nach jedem schwer verständlichen Satz kommt vom Rest des Mixed-Abled-Ensembles wie das Amen nach einer Fürbitte "Und ich verehre sie/ihn". Das hat etwas Sektiererisches - und einige Interventionen der professionellen Sexualbegleiterin Deva Bhusha bewegen sich an der Grenze zur Aufdringlichkeit. Überhaupt scheint dieser engagierte Abend jedes aufführungsökonomische Maßhalten zu verweigern.

Schier endlos fokussiert er auf einzelne Personen oder zelebriert eine Verschnürungsszene, die dann doch nur wieder aufgelöst wird. Und er martert das Gehör mit Spielhöllenmusik in Dauerschleife, während Lucy Wilke und der Tänzer Pawel Dudus einander körperlich nahe kommen. Wie die "Behinderte" hier die (Ver)Führung des offenkundig problemzonenfreien Tänzers übernimmt, ohne dass dies in irgendeiner Weise aufgesetzt wirkt, ist dann allerdings ein Erlebnis und nimmt allen Klischeevorstellungen von Ohnmacht oder Bedürftigkeit die Luft zum Atmen. Lucy nimmt Pawel die Unbeholfenheit und Scheu, die bei jedem "ersten Mal" überwunden werden wollen. Und auch wenn die beiden gegenüber Paar-Premieren ohne wochenlange Probenzeit rein technisch im Vorteil sind: Was sie auf gut einsehbarer Matratze miteinander tun, ist so innig, lust- und liebevoll, dass der Blick des Voyeurs selbst weich wird. Wenn die fast nackte Lucy dann auf dem Rücken liegend auch noch eine wundervolle barocke Motette singt, packt einen die Ehrfurcht vor dem Wunder des menschlichen Körpers in all seiner Vielfalt.

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