Theater:Die Welt, ein Schlachthaus

Maria Milisavljevics Drama "Beben" erzählt von einer Welt des medialen Overkills. Es eröffnete den Heidelberger Stückemarkt.

Von Jürgen Berger

Während der letztjährigen Preisverleihung verlas Maria Milisavljevic eine Erklärung, die alle damals anwesenden Autorinnen und Autoren unterschrieben hatten. Das Manifest suchte die Nähe zu den Zehn Geboten. Gefordert wurde unter anderem, Textarbeiter des dramatischen Genres sollten wieder an "die Macht ihrer Worte" glauben und sich bewusst machen, "dass Theater die Wirklichkeit formt und die Welt verändert". Das "Heidelberger Autorenmanifest" sollte ein Weckruf sein, geriet ironischerweise aber so schnell in Vergessenheit wie all die täglichen Meldungen aus den Konfliktzonen der Welt, die die gebürtige Arnsbergerin in dem Stück versammelt, mit dem sie letztes Jahr den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis und den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes gewann.

Selbstmordattentäter, Amokläufer, Tote im Mittelmeer: Es ist der mediale Overkill

Zum Auftakt des diesjährigen Heidelberger Festivals gab es nun eine Inszenierung dieses Siegerstückes. "Beben" erzählt von einer Welt des medialen Overkills, in der ein Gewaltszenarium das nächste jagt. Sechs nicht näher identifizierbare Sprecher berichten in einer atemlosen Wechselrede von Selbstmordattentaten, den Toten im Mittelmeer, dem 18-jährigen Münchner Amokläufer oder einem Soldaten, der ein Kind erschießt und anschließend von Selbstvorwürfen gepeinigt wird. Jedes Ereignis geht sofort unter im Sog neuer Vorfälle. Die Welt, so Milisavljevic, ist ein Schlachthaus und so unübersichtlich, dass sich natürlich die Frage nach persönlicher Schuld stellt. Nur: Haben wir noch Zeit, solche Fragen zu stellen?

Um sich nicht ganz dem untergründigen moralischen Beben hinzugeben, das sie ihrem Text mit auf den Weg gegeben hat, operiert Milisavljevic mit dem Gegenmittel der ironischen Distanzierung und führt einen "Mann an der Kante von Ulro" ein. Entlehnt hat sie ihn beim englischen Dichter, Maler und Mystiker William Blake. Bei dem ist "Ulro" noch ein mythisches Land der lebenden Toten, in dem alle Versehrten und Gezeichneten Zuflucht finden. In "Beben" wird eine Figur daraus, die angesichts der Unwägbarkeiten einer deregulierten Gegenwart vorzugsweise schallend lacht. Man nimmt es zur Kenntnis und fragt sich: So what?

Beben Heidelberger Stückemarkt

Ein Gewaltszenarium jagt das nächste: Nanette Waidmann und Hendrik Richter in dem Stück "Beben".

(Foto: Annemone Taake)

Dass so eine Figur Probleme bereiten kann, sah man vor Kurzem am Pfalztheater Kaiserslautern. In der an den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis gekoppelten Uraufführung von "Beben" (Regie: Fanny Brunner) wurde aus dem Kantenmann ein rot gekleideter Harlekin, so dass man nicht recht wusste, ob man im Zirkus gelandet war. Die Inszenierung schwankte zwischen pathetischer Überhöhung und clowneskem Understatement. In der Heidelberger Zweitinszenierung wählte der Regisseur Erich Sidler nun einen ganz anderen Weg und verlagerte das Angstbeben des Textes zusammen mit dem Choreografen Valentí Rocamora i Torà in die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler.

Zu Beginn schießen die Köpfe der Darsteller hinter einer Balustrade hervor und wechseln die Positionen wie körperlose Denkorgane à la Beckett. Wagen sie sich dann aus der Deckung, kommt es zu choreografierten Zuckanfällen, und man hat den Eindruck: Nicht der Mensch gestaltet die Umstände seines Lebens, er wird durch unvorhersehbare Umstände gelenkt. Mit derart starken Bildern fängt Sidler den eher flüchtigen Text ein. Irgendwann musste aber auch er sich dem "Mann an der Kante von Ulro" widmen, und das hat zur Folge, dass ein Showbiz-Paar auf der Bühne erscheint. Sophie Melbinger und Dominik Lindhorst-Apfelthaler spielen das betont nonchalant. Davon ablenken, dass auch in Heidelberg niemand so recht wusste, was das Ganze soll, können sie nicht.

Mit "Beben" wurde der Heidelberger Stückemarkt eröffnet. Weiter ging es unter anderem mit szenischen Lesungen der diesjährigen Wettbewerbstexte von Nicole Kanter, Sigrid Behrens, Joël László, Lorenz Langenegger, der gebürtigen Iranerin Maryam Zaree und der gebürtigen Ukrainerin Marjana Gaponenko. Die lebt heute in Mainz und trifft am kommenden Wochenende auf bekannte Gesichter. Diesjähriges Gastland des Stückemarktes ist die Ukraine. Auf dem Programm stehen vier Theaterabende und neue Theatertexte. Im Rennen um den internationalen Autorenpreis sind Oksana Sawtschenko, Wolodymyr Snihurtschenko und Olga Mazjupa.

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