Theater:Die Seele als Kohlekeller

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Ein Flimriss und seine Folgen: Barbara Frey inszeniert am Wiener Burgtheater Eugène Labiches schaurige Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine".

Von Wolfgang Kralicek

Nicholas Ofczarek kommt aus dem Delirium nicht mehr heraus. Nach seinem Auftritt als daueralkoholisierter Schustergeselle Knieriem in Johann Nestroys "Lumpazivagabundus" hatte der Burgtheaterstar sich zugunsten von einigen Fernsehprojekten auf der Bühne rar gemacht. Und jetzt, in seiner ersten Theaterrolle nach fast zwei Jahren, spielt er einen Mann, der in der vergangenen Nacht so viel getrunken hat, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann. Mit sehr unsicheren Schritten trippelt Monsieur Lenglumé aus seinem Gemach und stellt gleich einmal eine gute Frage in den Raum: "Wo ist meine Hose?"

Kaum ist das geklärt - er hat die Hose noch an -, kommen Schnarchgeräusche aus dem Schlafzimmer, das Lenglumé sich offenbar mit seinem alten Schulkollegen Mistingue (Michael Maertens) geteilt hat. Die beiden, so viel ist klar, waren gemeinsam bei einem Klassentreffen. Danach aber können sie sich - Filmriss - an nichts mehr erinnern. "Ich war ab dem Heilbutt sternhagelvoll", gesteht Mistingue. "Mich hat's erst beim Salat erwischt", analysiert Lenglumé.

Weil sie in ihren Hosentaschen mysteriöserweise Kohlenstücke finden, sind die Hände der Kommilitonen pechschwarz. Und als Lenglumés Frau Norine (monströs komisch: Maria Happel) beim späten Katerfrühstück den Zeitungsbericht vom Mord an einer Kohlenhändlerin vorliest, sind die Herren überzeugt davon, dass sie ein Verbrechen begangen haben.

Der böse Witz von Eugène Labiches Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" (1857) besteht darin, dass die tragischen Konflikte, um die es darin geht, nicht ernst genommen werden. Schuld oder gar Sühne sind für Labiches Protagonisten kein Thema, es geht ihnen ausschließlich darum, ihre Haut zu retten. Ihre schmutzigen Hände ("Nie wieder werde ich ein Mädchen mit Kohle ermorden!") waschen sie in Unschuld, lästige Mitwisser werden skrupellos aus dem Weg geräumt; nur dem Einfluss des Restalkohols ist es zu verdanken, dass Lenglumé am Ende versehentlich die Katze und nicht den Vetter (Peter Matić) erdrosselt.

Den Ernst der Lage als Erster erkannt hat der Regie-Düsterling Klaus Michael Grüber, der 1988 an der Berliner Schaubühne auch die dunklen Wolken sichtbar machte, die über diese Komödie ziehen. (Damals wurde das Stück erstmals in Elfriede Jelineks sehr direkter Übersetzung gespielt, die inzwischen Standard ist.) Der Schweizer Theaterdadaist Christoph Marthaler wiederum zelebrierte den Einakter 1991 in Basel, in eine seiner ersten Inszenierungen überhaupt, als dreistündige Slow-Motion-Slapstickorgie.

Wie langsam Marthalers Version gewesen sein muss, macht der Zeitvergleich mit Barbara Freys Inszenierung am Wiener Burgtheater deutlich: Die schlägt zwar auch ein sehr gemäßigtes Tempo an, dauert aber nur halb so lang. Dass es von der Zivilisation zur Barbarei hier nur ein kleiner Schritt ist, macht schon Bettina Meyers Bühnenbild deutlich: An der linken Seite des im plüschig-roten Stil des Burgtheaters gestaltete Salons befindet sich eine Müllhalde. Manchmal regt sich was - eine Ratte? - in dem Haufen, dann drischt die Hausherrin mit einem Spaten darauf ein, bis wieder Ruhe herrscht. Die beiden hochprozentigen Protagonisten agieren auf sehr anmutige Weise neben der Spur. Schuhe anziehen wird zum akrobatischen Akt, in den Frack schlüpfen erscheint noch kniffliger. Maertens ist vollkommen durch den Wind, Ofczarek schon einen Schritt weiter. Seine Bewegungen haben etwas Zombiehaftes, in seinem unendlich leeren Blick gähnt ein Abgrund.

Obwohl die komödientypische Tür-auf-Tür-zu-Dramaturgie von Frey verweigert wird, sind in die Bühnenwand sechs Türen eingelassen. Dahinter befinden sich das Schlafzimmer, das Waschbecken und eine Treppe - aber auch ein paar hübsch absurde Überraschungen, darunter eine gigantische Spirituosensammlung.

Am Ende stellt sich heraus, dass der Zeitungsartikel zwei Wochen alt war; die beiden haben tatsächlich nur gesoffen und in einem Kohlenkeller den Rausch ausgeschlafen. Dass sie unschuldig sind, würden die Herren aber wohl selbst nicht behaupten. Warum hätten sie sonst keine Sekunde daran gezweifelt, einen Mord begangen zu haben? Darauf, dass sie längst ihre Leichen im Keller haben, deuten auch zwei Details auf der Bühne hin: Hinter einer der Türen verbirgt sich ein Haufen Schädel, und der in lichter Höhe über der Szene hängende Lüster ist nicht mit Kristallglas, sondern mit Knochen und Totenköpfen behängt. Noch unheimlicher aber wird's, wenn hinter den Türen am Ende nur noch Leere ist, finster wie der Weltraum. Monsieur Lenglumé nimmt staunend zur Kenntnis: nichts dahinter. Dann geht er durch die Tür.

© SZ vom 20.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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