Theater:Der mit der Goldkante

Theater: Allez-hopp! Wenn Brigitte Hobmeier (vorne) als zauberkünsterlisch begabte Gouvernante Charlotta mit den Fingern schnippt, geraten Dinge in Bewegung und die Menschen auch mal ins Tanzen.

Allez-hopp! Wenn Brigitte Hobmeier (vorne) als zauberkünsterlisch begabte Gouvernante Charlotta mit den Fingern schnippt, geraten Dinge in Bewegung und die Menschen auch mal ins Tanzen.

(Foto: Thomas Aurin)

Nicolas Stemann inszeniert Tschechows "Kirschgarten" als selbstreferenzielle Verteidigung der aktuellen Münchner Kammerspiel-Ästhetik. Als Symbol des Überkommenen wirkt ein roter Theatervorhang mit.

Von Christine Dössel

Holla, da ist er ja wieder, lange nicht gesehen: der gute alte Theatervorhang! Klassisch rot, mit prunkvoller Goldbordüre und prallem Faltenwurf kommt ihm an diesem Abend in den Münchner Kammerspielen eine besondere Bedeutung zu. In Nicolas Stemanns "Kirschgarten"-Inszenierung ist er das ironische Symbol für die "guten alten Zeiten", die ein für allemal vorüber sind, sei es in Tschechows untergehender Kirschgarten-Gesellschaft kurz vor der russischen Revolution, sei es im heutigen Theater, wo im Zeichen des performative turn die alten Repräsentationsformen des Schauspiels längst als obsolet gelten.

Insbesondere soll der rote Vorhang das klassische bürgerliche Theater repräsentieren, mit einem im Gestern stehen gebliebenen, die Augen vor den Erfordernissen der Zukunft verschließenden Publikum. Was in dieser selbstreferenziellen Inszenierung explizit auf die Münchner Kammerspiele und ihre angestammten Fans gemünzt zu sein scheint - und auf die vehementen Debatten, die zuletzt um die performative und sozialpädagogische Ausrichtung des Hauses unter der neuen Intendanz von Matthias Lilienthal geführt wurden. So manches aus den entsprechenden Artikeln und Diskussionen floss nun als Anspielung in den Tschechow-Text und die szenische Umsetzung ein, im Einzel-Zitat wohl nur für Insider erkennbar. Souverän ist das nicht unbedingt.

Dafür hat der Vorhang jetzt umso mehr zu tun. Auf Katrin Nottrodts Bühne kommt er geradezu penetrant zum Einsatz. Er geht in einem fort auf und zu, teilt den Raum, schiebt Einzelne nach vorne, während er andere verdeckt. Wenn Lopachin, der geschäftstüchtige Aufsteiger aus dem Bauernstand, am Ende des dritten Akts das Gut ersteigert hat, auf dem sein Vater und Großvater noch Leibeigene waren, zerrt er so stolz und wütend an dem Vorhang, dass er fällt. Bleibt ein roter Stoffhaufen in all seiner Symbolträchtigkeit.

Brigitte Hobmeier, deren Weggang heiß diskutiert wurde, bekommt einen letzten Auftritt

Hammersymbolisch ist hier vieles. Mit dem Türholz ins Haus fallen zum Beispiel die Kirschbaumstämme, die während des fast dreistündigen Abends in drei Szenen lautstark aus dem Schnürboden krachen: drastische Künder der drohenden Abholzung. Und dass die bewährten Stemann-Musiker Thomas Kürstner und Sebastian Vogel in Schutzanzügen stecken, hin und wieder mit dem Presslufthammer bohren und an ihrer Soundstation auch sonst gerne Lärm- und Störmusik fabrizieren, ist zum Teil zwar lustig, aber auch sehr naheliegend.

Brigitte Hobmeier, die jüngst an den Kammerspielen gekündigt und damit die Schauspielertheater- versus Performance-Debatte mit ausgelöst hat, bekommt in dieser ihrer letzten Inszenierung einen extra-großen Auftritt, und sie nutzt ihn mit Bravour. Als Gouvernante Charlotta eigentlich nur in einer Nebenrolle zu sehen, wird sie zur zentralen Figur einer Heimatlosen mit unbestimmter Herkunft (sie hat keinen Pass), die gauklerische "Kunststückchen" kann. Diese setzt Hobmeier ganz fein und leise als Theaterzauberin ein, die mit einem Fingerschnippen Dinge in Bewegung und Menschen zum Tanzen bringt. In einem hinreißenden Solo nach der Pause erzählt sie alles, was bisher geschah, im Schnelldurchlauf, dabei so charmant wie rasant jede einzelne Figur imitierend. "Der Kirschgarten" im Hobmeier-Zapping: der Höhepunkt des Abends.

Ansonsten ist nicht so viel los. Die weiträumig leere Bühne hat Werkstattcharakter, wie immer bei Stemann-Inszenierungen. Ein paar Stühle stehen herum, Scheinwerfer, Mikrofonständer. Zwar gibt es diesmal, völlig ungewöhnlich für diesen postdramatischen Textflächen-Regisseur, tatsächlich feste Rollenbesetzungen - zwölf Schauspieler spielen zwölf Figuren, und zwar jeder wirklich nur die seine -, aber das Spiel ist betont brüchig, distanziert, unterbelichtet. Man spricht hörspielartig in Mikros, immer gezielt aneinander vorbei. Es soll auf keinen Fall diese oft so wohlig-sentimentale Tschechow-Atmosphäre aufkommen; es kommt aber auch keine Nähe auf. Warm wird man mit den Figuren nicht. So wie die Schauspieler diese selber nicht ganz an sich heranlassen, bleibt man auch als Zuschauer auf Abstand.

Zur Ein- und Mitfühlungsverweigerung tragen ganz bewusst auch die altersmäßig eigentlich unpassenden Besetzungen bei. So spielt etwa Samouil Stoyanov, geboren 1989, den uralten Diener Firs, der am Ende im Haus vergessen wird. Dafür ist die Gutsbesitzerin Ranjewskaja, die in Paris ein ausschweifendes Leben führt, mit der 72-jährigen Ilse Ritter viel zu alt, wenn auch schön glamourös besetzt. Ritter, Gast an den Kammerspielen, ist allein schon deshalb eine Theaterlegende, weil sie Titelheldin in einem Stück von Thomas Bernhard ist ("Ritter, Dene, Voss"), und ein bisschen ist das auch ihr Part an diesem Abend: eine Legende zu sein, das große Theater von gestern zu verkörpern. Sie tut das mit großäugigem Charme als sanfte Bling-Bling-Lady im Chic der Fernseh-Geißens.

Auch Kammerspiel-Urgestein Peter Brombacher ist zu alt für die Rolle des Aufsteigers Lopachin, der den Kirschgarten kauft und ihn gentrifizieren wird. Er steht für den Fortschritt in Tschechows Stück, für den Kapitalismus, die neue Zeit. Er ist der Macher, der neue Formen ausprobiert (und wenn in Stemanns Lesart die Kammerspiele für den Kirschgarten stehen, dann ist Lopachin Lilienthal). Aber seltsam, als Mann der Tat und der Stunde erscheint Brombacher nicht gerade. Müde steht er da, abgearbeitet, ein Opa mit Strickweste überm Holzfällerhemd, breitbeinig seinen festen Standpunkt einnehmend. Dass ihm das Gut am Ende gehört, ist ihm nur ein schaler Triumph.

Da die Profilzeichnungen schwach bleiben, nimmt man weniger die einzelnen Menschen mit ihren Macken und Herzensleiden als die Gesamtsituation in den Fokus: eine Gemeinschaft im Umbruch, in einer Situation des drohenden Verlusts. Manchmal gibt es Energieschub-Szenen, in denen plötzlich etwas in Bewegung oder ins Blödeln gerät - etwa wenn der komisch trottelige Dauerstolperer Jepichodow mit seiner Pistole herumfuchtelt und alle aufschreien. Bei Christian Löber steckt in dem grauen Mäuserich ein verkappter Amokläufer. In den schönsten Szenen tanzen sie einfach, drehen sich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse oder geben sich in nebelschwadigem Diffuslicht einer End-of-the-Party-Atmosphäre hin.

Generell aber herrscht Ausverkaufsstimmung. Ilse Ritters Ranjewskaja zieht ihren bodenlangen Wollmantel mit dem chicken Pelzkragen gar nicht erst aus. Man ahnt sofort: Die ist bald wieder weg, mag sie noch so schwärmen von ihrer Kirschgarten-Jugend. Ihr Bruder Gajew lässt bei Daniel Lommatzsch schon optisch wissen, dass er durch den Wind ist, plappert sich mit Chuzpe aber immer wieder in einen Optimismus hinein und schleppt zu guter Letzt noch mal Dallmayr-Tüten heran: A bisserl was geht immer. Annette Paulmann als Warja verschwindet fast hinter der Unscheinbarkeit, mit der sie diese Bodenständige als altjungferliche Strickwesten-Liesl hinstellt. Und Julia Riedler trägt als Anja, an der Seite ihrer Mutter aus Paris eingetroffene Jung-Mondäne, die schlechte Laune so demonstrativ vor sich her, dass man befürchtet, sie werde zuschlagen. Den ewigen Studenten Trofimow, der sozialrevolutionäre Reden schwingt, aber nie was tut, scheint sie auch nur zum Zeitvertreib zu verführen. Kein Wunder, dass ihr das nicht richtig gelingt. Kaum hat Hassan Akkouch (mit Wuschellocken und Nickelbrille) ihr die Bluse ausgezogen, liest er auf dem Etikett "Made in Bangladesch" und ereifert sich gleich wieder (schein-)politisch: "Das ist genau das, was ich meine!"

Wirklich politisch wird es erst am Ende, wenn Stoyanows Firs sein Lob der alten Zeiten in eine reaktionäre Tirade wie aus dem Parolen-Arsenal der AfD übergehen lässt. Ob damit auch das alteingesessene Kammerspiele-Publikum gemeint sein soll? Falls ja, dann hat es zumindest nicht beleidigt reagiert. Es gab heftigen Applaus.

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