Theater: Amok an Schulen:Flugangst am Boden

Auch im Sterben hätte sie das nie geglaubt: In Hannover und Düsseldorf wird der Amoklauf an Schulen auf die Bühne gebracht - die Stücke schärfen die Sinne und werfen Fragen auf.

C. Dössel

Es sind ja immer die Unscheinbaren von nebenan. Denen man es nicht zugetraut hätte. Jen Kammbeck zum Beispiel alias Cold (das ist sein Netz-Name beim Egoshooter Counter Strike Source). Intelligenter Junge. Sprachbegabt. Lieblingsschüler der Deutschlehrerin Frau Patt. Ein Junge, der "ins Profil" passt: 16 Jahre alt. Außenseiter. Hört böse Musik, spielt gern Computer. Schreibt Kurzgeschichten. Er selbst ist es, der diese Merkmale eines "kritischen Falls", also eines potenziellen Schulamokläufers, auflistet und mit der Lehrerin noch drüber witzelt. Die soll nämlich "ein bisschen aufpassen", es war jemand vom Ministerium da. Frau Patt ist Jens gegenüber pflichtgemäß misstrauisch, er schreibt immer solche Gewaltgeschichten. Aber dass er tatsächlich mit einer Benelli M3 Super 90 in die Schule kommen und alle umnieten könnte, hätte sie im Leben nicht geglaubt. Und auch nicht im Sterben.

Ganz normaler Schulalltag

Cold ist der 16-jährige Protagonist in Juli Zehs "Good Morning, Boys and Girls", einem Stück über Amokläufe an Schulen, geschrieben als Auftragswerk für das Schauspielhaus Düsseldorf, wo Stephan Rottkamp es jetzt sehr redlich im Kleinen Haus zur Uraufführung brachte. Cold könnte aber auch einer aus der bunten Schülerschar sein, die am Abend zuvor am Tellkampfgymnasium in Hannover in dem Stück "komA" Szenen aus dem ganz normalen Schulalltag spielten: 19 Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren, gecastet aus Schulen der Region und von dem Regisseur Mirko Borscht zu einer starken Einsatztruppe zusammengeführt.

"komA" heißt rückwärts gelesen Amok. Das Stück des Jungen Schauspiels Hannover nach einer Textvorlage von Volker Schmidt und Georg Staudacher spielt im Vorfeld eines Amoklaufs. Es taucht an Ort und Stelle in die Schulwelt selber ein, spielt in Klassenzimmern, Toiletten, Fluren. In parallel ablaufenden Handlungssträngen und Episoden stellt dieses Polydrama wenige Tage vor der fiktiven Unglückstat Personen und Problemzusammenhänge vor und versucht so, mögliche Anzeichen und Ursachen erkennbar oder zumindest denkbar zu machen. Vor allem aber schärft dieses Stationentheater den Blick und sämtliche Sinne. Und es wirft Fragen auf, Fragen nach unserem sozialen Miteinander, nach Mitschuld und Verantwortung.

Erfurt, Emsdetten, Winnenden: Der Amoklauf von Schülern löst immer blankes Entsetzen aus, schiere Fassungslosigkeit. Wie kann es dazu kommen? Warum hat keiner vorher etwas bemerkt? Nach jedem Amoklauf versuchen Psychologen, Kriminologen und Soziologen Antworten zu finden. Und jetzt schließt sich ihnen das Theater an, das ja immer gerne den Puls der Zeit fühlt, um politisch und aktuell zu sein.

Amoklauf eines netten Vorstadtjungen

Ein Jahr nach Winnenden machen nicht nur die Schauspielhäuser in Hannover und Düsseldorf mit, am Deutschen Theater Berlin etwa steht seit Januar Felicitas Bruckers Hamburger Inszenierung von Thomas Freyers "Amoklauf mein Kinderspiel" auf dem Programm, ein Stück über drei Jugendliche, deren gewalttätige Gedanken sich mehr und mehr Bahn brechen. Und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg hatte im März das Stück "Punk Rock" des britischen Dramatikers Simon Stephens Premiere, das an einer Oberschule spielt und mit dem Amoklauf eines netten Vorstadtjungen endet.

Einfache Erklärungsmodelle und moralische Beurteilungen sind in diesen Stücken nicht zu haben; damit würde das Theater es sich (und uns) zu leicht machen. Es ist wohl auch utopisch zu denken, dass von solchen Theaterabenden irgendwelche Präventiveffekte ausgehen könnten. So wie es auch eher haltlos scheint zu befürchten, diese Amok-Stücke könnten potenzielle Täter zur Nachahmung anregen. Aber das Theater kann die Aufmerksamkeit des Zuschauers schärfen. Zumindest gilt für "komA" in Hannover ebenso wie für Juli Zehs Stück in Düsseldorf, dass sie Schulen der Wahrnehmung sind.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Erinnerungen einem im Schulgebäude von Hannover kommen.

Die Pumpgun als Pappgun

Wo "komA" den Gesamtkomplex Schule am "Tatort" selbst und mit "echten" Jugendlichen erfahrbar macht, geht die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh streng analytisch vor und nimmt das Amok-Thema in einem multiperspektivischen Gedankenkonstrukt unter die Lupe, nicht als individual- oder schulpsychologisches, sondern als breiter angelegtes gesellschaftliches Phänomen. Der Amoklauf wird als vollzogen vorausgesetzt, und Jens alias Cold (Denis Geyersbach) als Schüler vorgestellt, der die Tat neun Monate lang minutiös geplant hat. Wir erleben: die totale Selbstinszenierung eines Jungen, der manchmal so ein Gefühl von "Flugangst am Boden" verspürt und daran leidet, keine authentischen Erfahrungen mehr machen zu können. Er nennt das "die Karaoke-Welt". Nicht einmal die unerwartete Freundschaft mit der ebenfalls eigenbrötlerischen Susanne (Lisa Arnold) kann ihn mehr zurückholen aus seinem tödlichen Kopfplanspiel.

Vom Unfallkind zum Monster

Es gibt keinen linearen Handlungsablauf. In 30 Szenen plus Epilog wechselt die Autorin permanent - und gekonnt - die Zeit- und Realitätsebenen, bis man nicht mehr genau sagen kann: Was ist Wirklichkeit, was Fantasie? Die Lehrerin Frau Patt (Claudia Hübbecker) gibt wie aus dem Nichts ihre Kommentare zu Colds Geschichten ab. Und Cold selbst schlüpft immer wieder in die Rolle eines CNN-Reporters, der seine Eltern interviewt: den ach so antibürgerlichen Vater (Wolfram Rupperti), einen Erfolgsgaleristen, für den der Junge erst ein "Unfallkind" war und nun ein "Monster ist". Die harmlos-naive Mutter (Christiane Rossbach), die ihren Jungen verherrlicht. Man erfasst den familiären Hintergrund ebenso wie die eiskalte Fantasie, mit der der Junge den medialen "Nachruhm" plant. Die Autorin meidet plumpen psychologischen Realismus.

Der Regisseur geht behutsam, ja fast etwas brav an den Text heran, erlaubt sich keine theatralischen Ausraster oder virtuelle Ballereien und lässt seine Schauspieler notfalls lieber herumstehen als zu viel "spielen". Auf Robert Schweers Bühne ist alles aus brauner Pappe: eine abstrakte Kartonlandschaft, in der manisch gebastelt, geklebt und beschriftet wird. Selbst die Pumpgun ist hier eine Pappgun. So sehr das anfangs als Idee besticht, obsiegt gegen Ende doch ein eher papierener, beigebrauner Eindruck.

Nervtötend fröhlich

Wer am Tag zuvor in der Tellkampfschule Hannover war, muss den Düsseldorfer Abend ohnehin als eher spröde und diszipliniert-distanziert empfinden. Das Live-Erlebnis der Produktion "komA" ist natürlich viel emotionaler und hinterlässt, durch die entwaffnende Direktheit der jugendlichen Darsteller und Erinnerungen an die eigene Schulzeit, einen nachhaltigen Eindruck. Schon dieser Schulgeruch, der einen da gleich wieder in die Nase steigt!

Und dann dieses soziale Geflecht aus Freundschaft und Feindschaften, Mobbing und Hierarchien, das sich da Zufallsszene für Szene immer dichter verstrüppt, während man über Treppen und Flure hastet, um hier mal den "Terror Twins" Aaron und Elena zu folgen oder dort mal im Musikunterricht vorbeizuschauen . . . Man taucht in diesen drei Stunden in den Mikrokosmos Schule ein und kriegt in der erzeugten Hektik, wie im wahren Leben, doch alles nur verzerrt und ausschnitthaft mit. Und man greift, wenn's drauf ankommt, nicht ein. Man begegnet Schülern und ihren Problemen: der nervtötend fröhlichen Fides, dem Sicherheitsfanatiker Ferdinand, der Streberin Leni, dem Aufreißer Al Grien. Der glatzköpfige Gregor wurde von der Schule verwiesen und streift seither mit einer Matratze durch die Gänge; und da ist Malte, das lange Elend, das nie eine Miene verzieht. Es gibt Knutsch- und Prügelszenen, Provokationen und Eskalationen.

Die Geschichten sind fiktiv und basieren auf dem Stück "komA" der österreichischen Autoren Volker Schmidt und Georg Staudacher. Gespielt aber wird höchst realistisch, mit vielen Improvisationen der teilnehmenden Schüler, die eine unglaubliche Dynamik erzeugen. Wie der Regisseur Mirko Borscht das zu organisieren weiß, ist famos. Der gebürtige Cottbuser, Jahrgang 1971, ist schon mit dem Film "Kombat Sechzehn" und dem Theaterabend "Opferpop" in Halle aufgefallen. Der fiktive Amoklauf, mit dem sein Theaterabend beginnt und in den er mündet, gibt keine Antwort auf das Warum. Und es könnte eigentlich auch jeder gewesen sein. Aber man hat in der Hannoveraner Tellkampfschule doch etwas gelernt - fürs Leben.

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