"The Tower" von Motorpsycho:Wie ein warmes Frotteehandtuch, das einem ums Herz gewickelt wird

Lesezeit: 3 min

Auf ihrem neuen Album "The Tower" blicken Motorpsycho auf die Menschen, die auf den falschen Fährten sind, auf die Erdogans, die Trumps, die Nimrods. (Foto: Geir Mogen)

Für mich waren Motorpsycho die Band, die mein Leben komplettierte.

Gastbeitrag von Oliver Polak

Papenburg 1993, eine Kleinstadt in Norddeutschland, Kanäle, Meyer Werft und CDU. Im einzigen Musikfachgeschäft Rehbock gab es die Top 100 als Singles an der Single-Wand direkt hinter dem Tresen, wo man vorab in Platten reinhören konnte und wo man ansonsten alles zwischen Abba und ZZ Top fand, nur keinen Indierock. Für die Musik , die mich zu der Zeit interessierte - Pavement, Dinosaur Jr., Sebadoh, Codeine, Silver Jews, Blonde Redhead, Notwist, aber auch Tocotronic oder Blumfeld -, musste ich nach Oldenburg oder besser noch ins 40 Kilometer entfernte holländische Groningen fahren. Ich spielte damals nach der Schule in Bands, an den Wochenenden traf man sich bei Freunden, um die ländliche Tristesse zu betäuben. Mit Alkohol und Musik, am besten hoch dosiert.

An einem dieser Abende hörte ich zum ersten Mal von dieser neuen norwegischen Band, die das Beste überhaupt sein sollte: Motorpsycho. Wir hörten auf CD das Album "Demon Box". Eindruck beim ersten Song, bei dem Banjos, Gitarren und Geigen zu hören sind - urgh, ist das Country? Der zweite Song "Nothing To Say" war dann zum Glück sofort brachialer, alles weitere irgendwo zwischen Metal, Indie, Psychedelik, aber wirklich überzeugt war ich noch nicht.

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In den nächsten Wochen war um mich herum dann allerdings fast täglich von Motorpsycho die Rede, im Proberaum, auf dem Schulhof, im Café. Alle schienen infiziert. Und zwar von dieser einen "Demon-Box"-CD, die in Papenburg offenbar herumgereicht wurde, bis sie sich alle auf Kassette gezogen hatten. Irgendwann kam sie dann auch bei mir an, ich zog sie mir auf ein Tape und begann sie zu entdecken.

Bald war es die schönste und gleichzeitig düsterste Musik, die ich bis dahin gehört hatte. Ich hatte das Gefühl, etwas zu hören, was man so noch nie gehört hatte und das trotzdem so vertraut war wie alle Lieblingsbands zusammen. Motorpsycho waren die Band, die mein Leben komplettierte. Sie war wie ein warmes Frotteehandtuch, das einem ums Herz gewickelt wird. Seitdem verging in meinem Leben kein Tag mehr ohne Motorpsycho.

Die Band wirkte wie ein sanftmütiges Raubtier

1994 sah ich die Band im "Vera", einem Jugend- und Kulturzentrum in Groningen, zum ersten Mal live. Das Konzert war ausverkauft. Im gedimmten Licht betraten drei unscheinbare Typen die Bühne und spielten zwanzig Minuten Folk.

Es war irre langweilig, und doch lag auch Bühnennebel in der Luft und dieses Gefühl, dass da noch etwas passiert. Schließlich erlosch das Licht, der barfüßige Banjospieler mit freiem Oberkörper und kurzen Adidas-Shorts setzte sich hinter das Schlagzeug, und die beiden anderen Musiker legten sich E-Gitarre und Bass um. Dann fingen Schlagzeug und Bass stakkatohaft an zu spielen, ihr Zusammenspiel wirkte maschinenartig und war ohrenbetäubend laut. Dann der Ausbruch, mit verzerrter Gitarre und schreiendem Gesang. Alles war plötzlich hell erleuchtet. Und so ging es drei Stunden weiter: 20 Minuten lange Songs, gefolgt von kurzen Indiepopstücken, dann Metal und dann immer wieder Rock.

Die Band wirkte wie ein sanftmütiges Raubtier, das sich immer wieder selbst auffressen muss, um zu überleben. Perfekt. Ich hatte mich verliebt. Es ist bis heute meine größte, intensivste Liebe gewesen. Und die eine, die mich nie enttäuschte. 20 neue Motorpsycho-Alben sind seither erschienen. Jedes steht für einen bestimmten Lebensabschnitt, Freunde, Stationen.

Auf ihrem eben erschienenen neuen Album "The Tower" blicken Motorpsycho nun auf die Menschen, die auf den falschen Fährten sind, auf die Erdoğans, die Trumps, die Nimrods. Es ist eine Antwort auf die Welt geworden, in der wir gerade leben. Und ein Plädoyer dafür, furchtlos zu bleiben. Mit Rockriffs, Beatles-Mellotron, Basswalzen, Engelsgesängen, Beach-Boys-Momenten, psychedelischen Gitarrenwänden, Glockenspielen, Schlagzeug-Gewittern, Stille und, ganz am Ende nach einem Gitarrenorkan, Bent Saethers Stimme, die leise "Love is pure" singt.

Man sieht dabei zu, wie alles verglüht

Das Album beginnt mit dem Titelsong "The Tower" und zärtlichen, leisen Gitarren und Mellotron, bevor sich das Stück in ein Rockmonster verwandelt, hymnenartig und zugleich bedrohlich hart. Mehrstimmig singen Saether und Ryan lieblich darüber, dass der Himmel über unseren Köpfen grau ist und jeder den Atem anzuhalten scheint, die Wölfe nach Beute suchen, der Geruch des Todes in der Luft liegt und dass sie dafür beten, dass die Führer weise sind und niemals den Kampf suchen. Danach zerbricht der Song, wird immer lauter und wahnsinniger, mit endlosen Gitarrensoli. Genau genommen ist es jetzt eher der Soundtrack zu einem Raketenstart. Aber genau, wenn alles in Flammen steht, geht es zum leisen Mellotron zurück, und man sieht dabei zu, wie alles verglüht.

Danach folgen direkt das schwere "Bartok Of The Universe" und "ASFE", das schwärzer als Black Sabbath klingt und doch eigentlich ein Plädoyer dafür ist, dass jeder sein eigenes Lieblingslied hat und dass es für jeden Song einen Sänger gibt. Zehn Songs, und jeder Song eher ein Roman als eine Kurzgeschichte. Was für ein Glück.

Jeder braucht ja ein gutes Buch oder eine Platte, zu der er gehen kann, wenn ihm alles zu viel wird. Oder eben einen Turm.

Der Autor ist Schriftsteller und Stand-up-Comedian und tourt derzeit mit seinem neuen Programm "Über alles". Nächste Termine: 4.10 Wien, 5.10. München, 6.10. Stuttgart, 7.10. Zürich.

© SZ vom 28.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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