"The Sessions" im Kino:Befreit vom Anschein der Perfektion

Kinostarts - 'The Sessions'

Schauspieler John Hawkes spielt den gelähmten Dichter Mark O'Brien: In "The Sessions" geht es um Interaktion, um das Wechselspiel der Gefühle.

(Foto: dpa)

Ben Lewins Film "The Sessions" ist die Geschichte des gelähmten Dichters und Journalisten Mark O'Brien. Und es ist die Geschichte eines etwas anderen ersten Mals: Es geht um Sinnlichkeit, die sich löst vom zwanghaften Anschein körperlicher Perfektion.

Tobias Kniebe

Es beginnt mit einem Blick ganz von außen, unscharf und verwaschen. Berkeley, Kalifornien, in den späten siebziger Jahren - die Welthauptstadt des emanzipativen Optimismus. Ein junger Student besucht die University of California, polio-gelähmt vom Hals abwärts, die meiste Zeit an eine Eiserne Lunge gefesselt. Nur liegend kann er existieren.

Und doch steuert Mark O'Brien sein elektrisch fahrbares Krankenbett selbst, mit einem Stäbchen im Mund und über diverse Spiegel, besucht seine Vorlesungen, macht seinen Abschluss. Die Nachrichtensendungen berichten, alte Dokumentaraufnahmen beglaubigen die Realität dieses ungewöhnlichen Falls.

Ganz von außen betrachtet, scheint das Schicksal des Dichters und Journalisten Mark O'Brien (1949-1999) also zweierlei zu bestätigen: Dass es Menschen gibt, die aufgrund einer Schwerstbehinderung praktisch gar nicht am Leben teilhaben können. Und dass es diesen Menschen dennoch möglich ist, all diese Beschränkungen zu überwinden. Wenn sie nur den Willen dazu haben.

Beides nicht die ganze Wahrheit, würde Mark O'Brien selbst dazu sagen: "We're just human." Diese Erkenntnis auf wunderbar humorvolle, unpädagogische, unprätentiöse (und zum Teil sogar erotische) Art und Weise zu beglaubigen, ist das nicht geringe Verdienst von Ben Lewins Spielfilm "The Sessions".

Wenn man also den Mark O'Brien des Films, inzwischen 36 Jahre alt, von John Hawkes mit fast unheimlicher Angleichung an das Original verkörpert, zum ersten Mal in seiner Eisernen Lunge liegen sieht, ist er durchaus ein Überlebender, ein Überwinder unglaublicher Schwierigkeiten, ein Erfolgsmensch. Einerseits. Andererseits turnt seine Katze so elegant und mühelos auf seiner gusseisern schnaufenden Beatmungsmaschine herum, wird im Kontrast dazu sein simpler aber unerfüllbarer Drang, sich am Körper zu kratzen, so peinigend erfahrbar, dass man realisiert: Im Alltag bedeuten seine bisherigen Errungenschaften leider wenig.

Was O'Brien stattdessen am Leben hält, muss der Humor sein, der aus seinen Schriften überliefert ist und auch hier bald das Narrativ bestimmt - in herrlich trockener, nasaler, durch ständige Atemschwierigkeiten gepresster Diktion. Etwa wenn er von den "spektakulären Unfällen" berichtet, die er mit seinem selbstgesteuerten Krankenbett ausgelöst hat, weshalb er nun auf ständige Hilfe angewiesen ist; wenn er von seinem Glauben an Gott erzählt, "weil es unerträglich für mich wäre, niemanden zu haben, dem ich für mein Schlamassel die Schuld geben kann". Oder wenn er mit seinem katholischen Priester (William H. Macy in einer schönen Nebenrolle) bei einer Art horizontaler Beichte vor dem Altar über die Zukunft spricht: "Ich nähere mich meinem maximalen Haltbarkeitsdatum."

Das Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben, treibt Mark besonders in Bezug auf die Frauen um. Denn neben garstigen alten Pflegerinnen, die man gottseidank wieder feuern kann, kümmert sich einmal auch die zauberhafte und sinnliche Amanda (Annika Marks) um ihn, in die er sich sofort verliebt.

"By the way, ich bin keine Jungfrau mehr"

Die Nähe und der Geruch eines solchen Zauberwesens, das schon qua Pflegeauftrag ständig die Grenze zur Intimität überschreiten muss, und dann allenfalls die Möglichkeit, es mit Worten zu berühren - ist das nicht dichterische Pein in Reinform? O'Brien macht Amanda einen Heiratsantrag.

Sie liebt ihn auch, das gesteht sie ihm unter Tränen - "nur eben nicht auf diese Art." So schimpft er auf den "ewigen Bullshit mit dem Freunde bleiben" und erscheint dabei auf einmal gar nicht mehr wie ein gelähmter und verkrüppelter Mann, sondern wie ein Mensch, der unerwiderte Liebe erfahren hat. Wem wäre das fremd?

Anders als Julian Schnabels Film "Schmetterling und Taucherglocke", der von einem vergleichbar in seinem Körper eingeschlossenen Mann erzählt, versucht der Regisseur Ben Lewin nicht, ganz im Kopf seines Protagonisten zu verschwinden und dessen imaginierten Blick einzunehmen.

Denn hier geht es um Interaktion, um das Wechselspiel der Gefühle: Wie Mark O'Brien auf die Frauen blickt, wie sich dieser Blick verändert - und wie die Frauen (und auch wir Zuschauer) im Gegenzug zurückblicken, wie sie plötzlich etwas anderes sehen als einen dünnen, weißen, schmerzhaft verdrehten Männerkörper. Und wie sich dabei Sinnlichkeit auf spektakuläre, aber eben gerade nicht demonstrative Weise vom zwanghaften Anschein körperlichen Perfektion löst, mit der fast alle Medien der Gegenwart - längst nicht nur das Kino - uns schon so lange quälen.

Denn irgendwann beschließt Mark O'Brien, tatsächlich Sex zu haben - auf pragmatische, emanzipative, eben sehr kalifornische Art und Weise. Sogar der Priester gibt sein Okay dazu. Über seine Therapeutin findet er eine nette und einfühlsame Surrogat-Partnerin (Helen Hunt), die brillant darin ist, ihm seine panische, an Woody Allen erinnernde Sex-Nervosität zu nehmen. Allenfalls ihr etwas zu blauer Lidschatten und ihre stark gebräunte Haut erinnern daran, dass ihr Beruf der Prostitution zumindest nahesteht.

Mit welchen Nacktheiten, Verrenkungen, Peinlichkeiten, vorzeitigen Ejakulationen und anderen Problemen die Annäherung dieser beiden Körper stattfindet, das zeigt der Film dann in aller Offenheit und Klarheit, aber doch nie klinisch explizit. Es ist die Geschichte eines "Ersten Mals" mit Hindernissen und mehrmaligen Anläufen, die wahrscheinlich universaler ist, als O'Brien geahnt hat. In seinem Text "On Seeing a Sex Surrogate" hat er sie aufgeschrieben. Darin geht es allerdings auch um die Ernüchterung, das dem "Triumph" - einem weiteren erreichten Meilenstein im Leben - nichts folgt. Die Liebe lässt sich auch pragmatisch, emanzipativ und kalifornisch nicht herbeizwingen.

Und doch muss man das schräge Grinsen gesehen haben, mit dem der Held am Ende einer neuen Frauenbekanntschaft sagen kann: "By the way, ich bin keine Jungfrau mehr". Denn das ist die tröstliche Wahrheit, die diesen Film und auch dieses Leben beschließt: dass Mark O'Brien die vollständige, Leib und Seele verbindende Liebe noch erfahren hat, bevor er im Alter von 49 Jahren starb.

The Sessions, USA 2012 - Regie und Buch: Ben Lewin. Kamera: Geoffrey Simpson. Schnitt: Lisa Bromwell. Musik: Marco Beltrami. Mit John Hawkes, Helen Hunt, William H. Macy, Moon Bloodgood, Annika Marks. Verleih: Fox, 96 Minuten.

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