Terrorangst:Mut zum Wegschauen

People enjoy the beach on July 17, 2016, in front of the Promenad

Wenige Tage nach dem Anschlag mag Baden am Strand von Nizza verstiegen wirken. Aber es ist richtig - und völlig legitim.

(Foto: dpa)

Hiobsbotschaften und Terror-Meldungen sind die neue Normalität. Wer sich dem Grauen entzieht, gilt als Wirklichkeitsverweigerer. Aber das ist gar nicht verkehrt.

Von Hannes Vollmuth

Einschlafen mit der Machetenattacke von Reutlingen, Aufwachen mit dem Bombenanschlag von Ansbach, und im Hinterkopf schwirrt immer noch, was Freitagabend in München geschehen ist. Im Abstand von wenigen Stunden ploppen Eilmeldungen, Hiobsbotschaften auf dem Handy auf. Aber wie soll man diese schlimmen Nachrichten überhaupt noch verarbeiten? Geht das überhaupt? Sich morgens in aller Ruhe trotzdem einen Apfel ins Frühstücksmüsli schneiden?

Der griechische Philosoph Epikur würde sagen: Ja, genau das sollten wir tun. Epikur suchte bereits im vierten Jahrhundert vor Christus nach einem Weg, mit den Angst einflößenden Ereignissen der Welt klarzukommen, und definierte schließlich für sich ein Ideal: Ataraxia, "Nicht-Unruhe", die innere Unerschütterlichkeit. Nicht, dass man um jede Art von schlimmer Erfahrung - Tod, Leid, Terrornachrichten - einen Bogen machen sollte. Aber man sollte sie Epikur zufolge, wenn überhaupt, nur mit einem gesunden inneren Abstand aufnehmen.

Das könnte bedeuten, wenige Tage nach dem Anschlag von Nizza in Nizza mit einer Luftmatratze ins Mittelmeer zu steigen. Es kann bedeuten, noch in der Nacht des Münchner Amoklaufs, aber nach Entwarnung durch die Polizei, durch die Stadt zu radeln. Oder am Samstag mit Freunden zu grillen - ohne News-Update. Der Berliner Politologe Herfried Münkler plädiert für "heroische Gelassenheit", inzwischen sogar für "mürrische Indifferenz". Als wollte Münkler die Ataraxia in unsere Gegenwart holen. Gut so, mehr davon!

Vielen mag dieses Konzept weltfremd vorkommen. Beim amerikanischen Literaturwissenschaftler Mark Greif kann man nachlesen, warum das so ist. Warum Ataraxia so misstrauisch begegnet wird. Greif beschreibt in seinem Essay "Anästhetische Ideologien", wie die erfahrungshungrigen Denkschulen von Platon und Aristoteles Epikurs Seelenruhe-Konzept verdrängten. Inzwischen dominieren der Erfahrungshunger und die Eventgier das westliche Denken. Sich zurückzunehmen, sich den Reizen und Stimulationen zu verweigern, ist dagegen kein gängiges Lebenskonzept.

"Empört euch!" hieß 2010 eine Streitschrift des französischen Widerstandskämpfers und UN-Diplomaten Stéphane Hessel. Man beachte das Ausrufezeichen, das als ständiger Appell an uns verstanden werden kann. Seid aktiv! Regt euch auf! In diesem Modus der Erregung mag sich das eigene Leben besser anfühlen lebendiger. Aber, ganz ehrlich, bei Terrormeldungen bewirkt sie genau das Gegenteil.

Das war in der Nacht auf Samstag auch im Fernsehen zu beobachten. Immer wieder wurden Liveschalten gesendet, ohne dass es essenzielle neue Erkenntnisse gab. Auf diese Weise wurde ein vermeintlicher News-Status und damit auch Angst-Status aufrechterhalten, der gar nicht gegeben war.

Zum Leben in einer Mediengesellschaft gehört ja generell, sich kurz vorm Zähneputzen noch einmal per Tagesthemen Leichen und Blut ins Wohnzimmer zu holen. Auch hier Imperative mit Ausrufezeichen: Informier dich! Nimm teil! Mach dir Gedanken! Schau dir das an! An und für sich legitim. Aber genauso legitim und vielleicht noch nötiger wäre, die Katastrophen auf Abstand zu halten und kluges Emotionsmanagement zu betreiben. Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid schreibt in seinem Bestseller "Gelassenheit": Zu einem gelungenen Leben gehöre "sich passiv zu verhalten, sich zurückzuziehen, aktiv allenfalls im zurückhaltenden Sinne, um ganz für sich, die Familie und die Freunde da zu sein". Das mag verstiegen, sogar kleinbürgerlich klingen. Aber in Wahrheit ist es das einzig Sinnvolle: Wer sich nicht ab und zu auch um sich selbst sorgt, kann bald niemandem mehr helfen.

Strategien der Unerschütterlichkeit gibt es auch in fernöstlichen Lebenshilfen, im Buddhismus, in der Achtsamkeits-Bewegung, in Yoga-Techniken und ja, auch der Erfolg von Erwachsenen-Malbüchern zeugt davon. Klar kann man sich darüber erheben, dass jemand in einem Malbuch Ruhe sucht, während die nächste Schießerei in den USA passiert. Aber was wäre die Alternative? Leid und Trauer in sich aufnehmen, bis man bricht? In die Depression abgleiten? Zynisch werden? Apathisch? Stumpf?

In der New York Times stellte ein Text vor Kurzem die Frage: Was richtet der andauernde Strom grausamer Nachrichten in uns an? Die Autorin zitiert darin eine Studie der Universität von Bradford in England, die herausfand, dass ständige Terror- und Gewalt-Nachrichten in sozialen Netzwerken sich auch traumatisierend auswirken können. In Deutschland wird der Risiko-Psychologe Gerd Gigerenzer nicht müde zu erzählen, dass nach dem 11. September 1600 US-Amerikaner mehr an Autounfällen starben, weil sie sich aus Angst vor dem Fliegen wieder für den Straßenverkehr entschieden hatten.

Vielleicht ist es nicht das Schlechteste, sich einfach an den Strand von Nizza zu legen. Oder an die Isar, und vielleicht über etwas ganz anderes zu sprechen als den Schock, den David S. Freitagnacht über die Stadt gebracht hat. Wer es am vergangenen Wochenende mal geschafft hat, Zeitung und Smartphone liegenzulassen, konnte sehen: Die Ersten haben mit ihrem bewussten Entzug schon begonnen. Und sie sehen kein bisschen unglücklich aus.

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