Terror & Philosophie:Religion im Rückwärtsgang

Die Attentate von Paris rufen jetzt auch die Philosophen auf den Plan: Jürgen Habermas spricht von Entwurzelung, Marcel Gauchet und Michael Walzer reden von Religionsfanatismus.

Von Joseph HAnimanN

Wie weit reichen unsere sozio-ökonomischen Erklärungsmodelle, wie tief greifen unsere rechtsstaatlichen Reaktionsmöglichkeiten gegenüber dem fundamentalistischen Terror? Das sind die beiden Zentralfragen, an denen die philosophische Reflexion nach den Pariser Terrorakten sich reibt. Der Dschihad benützt zwar religiöse Muster, hat aber nichts von einer Religion, erklärt Jürgen Habermas in einer Stellungnahme gegenüber der Zeitung Le Monde: Jede beliebige andere Erlösungsideologie könnte ihm untergeschoben werden. Der Dschihad ist für Habermas eine "absolut moderne Reaktionsweise auf Lebensumstände der Entwurzelung".

Solange wir die Ereignisse nur von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Seite her betrachten, verstehen wir nichts davon, entgegnet der Geisteshistoriker Marcel Gauchet. Für ihn handelt es sich sehr wohl um ein religiöses Phänomen - paradoxerweise jedoch eins im Rückwärtsgang. Die Gewalt des Religionsfanatismus ist in seinen Augen das verzweifelt-barbarische Rückwärtsspulen innerhalb eines globalen Prozesses, der der Religion ihre gesellschaftliche Prägekraft entzieht und sie in die Privatsphäre verweist: ein Prozess, der auch die islamische Welt erfasst habe. Wie durch eine monströse Fehlleistung sind die Dschihad-Terroristen nach Ansicht Gauchets dabei, mit ihrem den islamischen Religionsführern entwendeten, ins Politisch-Revolutionäre gewendeten Programm diesen Prozess gegenzuzeichnen. Sie könnten zwar großes Unheil anrichten, die Lebensart unserer Gesellschaft aber nicht ernsthaft bedrohen, schließt Gauchet: "Bekämpfen wir die fundamentalistische Gewalt für das, was sie ist, ohne ihr eine Macht zuzusprechen, die sie nicht hat".

Der Religionsfanatismus erstarkt nicht nur im Islam

"Wir glaubten alle an eine unaufhaltsame Säkularisierung in der Welt, das war falsch", schreibt der amerikanische Philosoph Michael Walzer. Er sieht den Religionsfanatismus neben dem Islam auch in anderen Religionen wieder im Kommen und findet es eitel, sich mit Argumenten wie dem zu beruhigen, dass es sich da um Fehlentwicklungen handle, dass Gewalt mit Religion nichts zu tun habe. So offen Walzer zur westlichen Verantwortung am gegenwärtigen Chaos des Mittleren Ostens steht, so "ideologisch verbohrt wäre es", findet er, dem Westen den Horror der Religionskriege ankreiden zu wollen. In den vom Westen bombardierten Ländern von Afghanistan bis Libyen hätte die moderne Demokratie sprießen können, wäre nicht die Religion dazwischen gefahren. Gegen ihren politischen Einfluss ruft der Amerikaner seine Kollegen zum neuen Kampf auf mit dem Ziel eines Staats ohne Gott.

Wie dieser Kampf zu Hause im Westen zu führen sei, ist indessen praktisch der einzige Punkt eines ungefähren Einverständnisses: auf der Grundlage eines Rechtsstaats, der dem allgemeinen Sicherheitsbedürfnis nur so viel Raum lässt, wie unbedingt nötig, und mit der Zivilgesellschaft als wachsamer, handlungsentschlossener Partnerin. Er sei zuversichtlich, erklärt Jürgen Habermas, dass Frankreich der Welt ein Beispiel dafür geben werde, wie man anders als das Amerika des "Patriot Act" der Versuchung von Abriegelung - mit der Obsession eines fortan "inneren Feindes" - widerstehen könne.

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