Taryn Simon in Frankfurt:Stolz und Schande der Nation

Die Fotografin Taryn Simon forschte in den USA nach geheimen Plätzen, die zeigen, was im Unbewussten des Landes schlummert. Ihre Bilder zeigt sie jetzt in Frankfurt.

Holger Liebs

Als Taryn Simon ihre mächtige Großformat-Kamera in der "Body Farm" aufbaute, drückte ihr jemand eine Schaufel in die Hand. Sie könne ja das Motiv ein wenig umarrangieren. Nun muss man wissen, dass es sich bei dem, was Taryn Simon fotografierte, um einen verrottenden menschlichen Kadaver handelte.

Und dass die beschönigend "Body Farm" getaufte Einrichtung der "forensischen Anthropologieforschung" gewidmet ist, also der Untersuchung verwesender Leichen mit dem Ziel, Kriminalfälle besser lösen zu können. Etwa 75 Körper verfallen unter genauer Beobachtung in der 24 Quadratkilometer großen "Body Farm", der weltweit größten Einrichtung ihrer Art in Knoxville, Tennessee. Taryn Simon lehnte das Angebot, die Schaufel zu benutzen, dankend ab.

Der Junge trägt noch seine Sneakers, das T-Shirt war wohl mal weiß. Ansonsten steht es nicht gut um ihn. Wer weiß, warum er starb, ob sein Körper für Forschungszwecke freigegeben wurde - in der "Body Farm" lagern auch viele unidentifizierte Leichen. Zu viele, sagt Taryn Simon, mehr jedenfalls, als man dort untersuchen kann.

Ihr Foto zeigt den Leichnam im Gestrüpp liegend. Zwischen den Zweigen im Halbdunkel versteckt, wie eben erst gefunden. Mit Beinen, die aussehen wie verbrannt. Für Forensiker eine Pflichtübung, bei hartgesottenen TV-Ermittlern inzwischen ein Standardmotiv - aber normalerweise folgt nach dem Fund einer Leiche eiligst ein Begräbnis. Nicht hier. Und zwar vorsätzlich. Und das ist kein kleiner Schock. Proteste gegen die Einrichtung blieben nicht aus. Seitdem wird das Institut streng bewacht.

"Haben Sie auch Schlafstörungen?" Taryn Simon sitzt im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt vor einem Computer und googelt. Sie hat ja auch viele ihrer insgesamt 66 Motive im Internet gefunden, in "obsessiver Recherche". Sie zeigt auf den Bildschirm. "Sehen Sie, das ist das Beste überhaupt." Man sieht einen kleinen weißen Plastikzylinder. "Die Box produziert white noise, ein leises, untergründiges Surren, und blockiert damit alle anderen Geräusche. Ich verreise nicht ohne sie."

Simon wurde vor ein paar Jahren bekannt durch ihre Serie "The Innocents", die zum Tode Verurteilte zeigt, deren Unschuld inzwischen erwiesen ist, teilweise nach langen Jahren der Haft. Simon hat sie nach ihrer Freilassung zu den Tatorten gebracht, wo sie angeblich ihre Verbrechen begangen haben sollten, und sie dort porträtiert.

Tödliche Dosis

Nach dem 11. September, als Amerika zur Festung wurde und gleichzeitig in fernen Ländern nach Terroristen-Verstecken suchte, beschloss die New Yorker Fotografin, ebendies in ihrem Heimatland zu tun: nach Orten zu forschen, die niemand kennt - außer vielleicht ein paar Fachleute. Sie wollte herausfinden, "was im Unbewussten der Nation schlummert, was ihren Stolz und ihre Schande ausmacht. Manche Orte erlangen plötzlich die Aufmerksamkeit des Zeitgeistes, andere werden verdrängt."

"White noise" - das beschreibt vortrefflich die Wirkung dieser Bilder. Viele von ihnen strahlen Düsternis aus, andere wirken harmlos - bis man den genau recherchierten, faktenreichen Begleittext liest. "Ich wollte aus den Motiven diesen Sound herauskitzeln, ein seltsames Gefühl des Unwohlseins, der Desorientierung, bei der man nicht weiß, woher sie kommt. Daher meine Inszenierung eines apokalyptischen, fast religiösen Lichts."

Welches sich nur mit der Großformatkamera, mit tonnenschwerem Equipment herstellen lässt. Vom 28. September an zeigt das Frankfurter Museum für Moderne Kunst erstmals den vollständigen "amerikanischen Index des Versteckten und Unbekannten", den Simon in den vergangenen vier Jahren erstellt hat.

Dabei ist sie keine politische Künstlerin. Dafür sind ihre Fotos zu atmosphärisch, fast verführerisch schön, trotz des Grauens, das sie zeigen. Unter ihren leuchtenden Oberflächen lauert aber immer die Irritation - wie bei dem durch Inzucht gezüchteten weißen Tiger, einem der letzten Exemplare seiner Art, in Eureka Springs, Arkansas. Wie debil und gehandicapt das grimmig posierende Tier ist, sieht man erst auf den zweiten Blick.

Aber eine rein dokumentarische Fotografin ist die 32-Jährige auch nicht: Schließlich sind ihre Bilder großenteils von der Künstlerin selbst manipuliert - etwa wenn sie verfaulende Früchte, die Immigranten am JFK-Flughafen in New York abgenommen wurden, stundenlang umarrangiert, bis sie aussehen wie ein altmeisterliches Stillleben. "Die fotografische Anstrengung versucht nie, Zugang zur Wahrheit zu eröffnen."

Also ist sie, die mit tonnenschwerem Gerät unterwegs ist, die Begleittexte ihres "Index" von fact-checkern lektorieren lässt, vielleicht eine Konzeptkünstlerin?

"Wahrscheinlich bewege ich mich irgendwo zwischen all diesen Schubladen. Dort fühle ich mich wohl. Der Name ,Index' suggeriert einen enzyklopädischen Zugriff, aber die Motive springen von der Playboy-Blindenschrift über das Archiv von George Lucas und atomsichere Bunker des Kalten Kriegs bis zum Porträt antizionistischer Juden. Ich wollte die Serie so zufällig, so entropisch wie möglich aussehen lassen. Erst in der Gesamtschau ergibt sich ein Bild."

Ein Bild, das etwas zeigt, was man schon wusste, aber so noch nie gesehen hat: dass die USA ein verwundbares, zutiefst verwundetes Land sind. Nicht nur wegen einzelner Schicksale wie das des todgeweihten Krebspatienten aus Portland, Oregon, der soeben ein Rezept für eine tödliche Dosis Gift unterschrieben hat. Oder wegen der ungeheuren Menge dioxinverseuchten Medizin-Mülls.

Sondern auch, weil die angeblich so perfekt geschützten, sicheren Staatseinrichtungen manchmal so harmlos und angreifbar aussehen. Die Kabel, die den transatlantischen Datenstrom zwischen Europa und Amerika übermitteln - 60 Millionen Gespräche gleichzeitig -, sind nichts als ein paar rote Stränge, die aus dem Fußboden kommen, geschützt von einem lächerlichen Zaun.

"Ich hatte mir vorgestellt, wie diese Kabel aus dem Sand herausragen, ein dramatisches Bild. Doch in welchen Löchern ich auch herumkroch: Es sah total langweilig aus. Ich dachte, die ganze Anstrengung wäre umsonst gewesen. Nachher wurden die roten Kabel zu einem meiner Lieblingsbilder. Die Verletzlichkeit offenbart sich gerade in der größten Banalität."

Taryn Simon ist eine zierliche Person, die offen bekennt, sie sei ziemlich paranoid, was ihre Gesundheit angehe. Warum also geht sie in hochkontaminierte Depots für nuklearen Abfall, nervt so lange, bis sie tödliche Viren, den Ku Klux Klan oder explodierende Raketen fotografieren darf? "Ich weiß nicht, vielleicht, weil ich mich meinen Ängsten immer stellen muss. Ich muss sie in Augenschein nehmen. Ich bin ein Control Freak. Erst langsam lerne ich, Dinge einfach geschehen zu lassen."

Höllisch schwer

In der "Nuclear Waste Encapsulation and Storage Facility" in Hanford, irgendwo im Staat Washington, schirmen 1936 Stahlkapseln voller Atommüll insgesamt 120 Millionen Curie radioaktiver Strahlung ab - bis auf die kalte Glut der Strahlen, die selbst die meterdicken Schutzschichten überwinden. Es dürfte in ganz Amerika kaum einen Ort geben, der stärker verseucht ist.

Mit Kamera und Geigerzähler bewaffnet kam Simon den Wassertanks mit den eisblau glühenden Kapseln ganz nah. Wäre man dem Caesium und Strontium ungeschützt ausgesetzt, wäre die Strahlendosis binnen zehn Sekunden tödlich. Die Fotografie sieht aus wie abstrakte Kunst; aber der Zufall will es, dass der Umriss des Nuklearabfalls auch den Küstenverlauf der USA nachzeichnet - als wär's ein Horrorszenario aus einem Hollywoodfilm.

"Mein Vater arbeitete für das Außenministerium. Er war ein obsessiver Hobbyfotograf. Von seinen Reisen brachte er Unmengen von Aufnahmen mit und zeigte sie uns, garniert mit magischen Geschichten. Ich wollte das tun, was er tat."

Schon als Schülerin schlich sich Simon in Foto-Seminare ein. Hartnäckig ist sie noch heute. Es sei "höllisch schwer" gewesen, Zugang zu den geheimen Kammern, Landschaften, Laboren, Müllhalden oder Archiven zu bekommen. "Aber manchmal hatte auch einfach noch niemand angefragt." In Monterey fotografierte sie den einzigen Weißen Hai in Gefangenschaft - nach einer Nacht des Wartens, während 20 Riesenstrahler Lichtbündel in den vier Millionen Liter großen Wassertank hineinjagten.

In Fort Lauderdale lichtete sie eine hymenoplastische Operation ab - eine 21-jährige Palästinenserin, die heimlich die Reise nach Florida angetreten hatte, ließ sich dort das Jungfernhäutchen wiederherstellen, "um von ihrem künftigen Ehemann nicht abgewiesen zu werden", wie der Begleittext sagt. Der Eingriff kostet 3500 Dollar. "Es dauerte ein Jahr, bis endlich eine der Frauen einwilligte, fotografiert zu werden. Sie wollte selbst, dass diese Bilder gezeigt werden. Sie war auf ihre Weise radikal."

"Kern des Projektes", sagt Simon, "ist die totale Trennung von Expertenwissen und öffentlicher Bekanntheit." Die Fotografin versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen diesen Sphären. So kann man unter einem eher lieblichen Bild beschlagnahmter Vögelchen nachlesen, dass die WHO eine Pandemie der Vogelgrippe als unabwendbar einstuft. Wie gesagt: Kann sein, dass man das schon wusste. Aber Taryn Simon erzeugt mit ihren Bildern eine fotografische Evidenz eigener Art. Diese Bilder beweisen nichts - und sagen doch alles.

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