Tanztheater:Mörderische Männerfantasien

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Prisca Zeisel als unnahbare und ätherische Königin Myrtha.

(Foto: Winfried Hösl)

In München gibt Igor Zelensky mit "Giselle" seinen Einstand beim Bayerischen Staatsballett.

Von Eva-Elisabeth Fischer

Das Bayerische Staatsballett beamt sich und seine Zuschauer zur Eröffnung der ersten Saison unter Ballettchef Igor Zelensky zurück ins Jahr 1841. Da wurde "Giselle", jenes grausam-schöne Schauerdrama um das Landmädchen gleichen Namens, an der Pariser Oper uraufgeführt. Seitdem gilt die mörderische Männerfantasie als Inbegriff des romantischen Balletts - vor allem wegen des zweiten Akts auf einer mondbeschienenen Waldlichtung, wo des Nachts zauberische Geisterwesen, Wilis genannt, tanzen. Jeder Mann, der, vom Reigen der untoten verlassenen Bräute betört, in den Machtbereich ihrer eiskalt rächenden Königin Myrtha gerät, wird von ihnen zu Tode getanzt.

"Giselle" ist seit 1945 fest verankert im Repertoire des Balletts der Bayerischen Staatsoper (das seit 1989 als Bayerisches Staatsballett firmiert). 1974 entstand die Münchner Version des englischen Choreografen Peter Wright. Sie wurde von Ivan Liška eingemottet zugunsten von Mats Eks drastischer Neuinterpretation aus dem Jahr 1982. Als programmatisches Statement hat Liška-Nachfolger Zelensky Wrights "Giselle" aus dem Fundus geholt und tüchtig ausbürsten und aufhübschen lassen - in der Endprobenphase sogar vom Meister selbst.

Peter Wright hat das menschliche Drama herausgearbeitet, und wie gehabt mit den Mitteln der Ballettpantomime und des akademischen Tanzes erzählt. Im ersten, dem bunten Akt, vergnügen sich Landvolk und Jagdgesellschaft vor dem Hintergrund biedermeierlicher Genre-Impressionen in einem hinreißenden Erntefest-Divertissement. Das Ganze illustriert die tragische Liebe von Giselle, einem ahnungsvoll schwächelnden Mädchen, zu ihrem treulosen Prinzen Albrecht. Sie wird darüber wahnsinnig - was Anlass gibt für einen furiosen Tanz. Bald greift sie zum Schwert, kehrt jedoch zurück als schwebendes Tüllgespinst unter der Fuchtel der silbern-flirrenden Wilis-Königin Myrtha.

Nach der Aufführung verbeugte sich der fast 90 Jahre alte Peter Wright vor den Premierengästen. Er war sichtlich zufrieden mit der Frucht seiner Bemühungen. Die Zuschauer hatten einen ersten Eindruck von der tänzerischen Perfektion bekommen, wie sie Igor Zelensky anstrebt. In einem wahren Parforce-Ritt mussten die 69 Tänzerinnen und Tänzer neben Training und den Proben für zwei andere Aufführungen in nur vier Wochen das Stück einstudieren. Das war wie ein Kaltstart nach den Sommerferien und führte zu etlichen Verletzungen sowie, in der Folge davon, auch zu einigen Umbesetzungen.

Das Resultat: Man sieht, was es so schon lange nicht mehr zu sehen gab, nämlich die makellose Linie und den vollendeten Gleichklang im Korps. Jeder Finger, jedes Bein ist auf gleicher Höhe gestreckt, jeder Kopf in gleichem Winkel geneigt. Die äußere Form soll und kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass da erst noch zu einem Ensemble zusammenwachsen muss, was an zum Teil blutjungen, unterschiedlich geschulten Tänzerinnen und Tänzern aus 22 Nationen zusammengewürfelt wurde. Zwei Stars komplettieren als (ständige) Gäste, was da an fantastischem Potenzial in den eigenen Reihen um Höchstleistung ringt: Natalia Osipova und Sergei Polunin. Sie ist erste Solistin beim Michailowsky Ballett in Sankt Petersburg, er ist erster Solist beim (ebenfalls von Zelensky geleiteten) Stanislawski Ballett in Moskau.

Sie liefern virtuos, was sie für die Giselle und den Prinzen Albrecht geprobt und abgespeichert haben und wofür sie international gefeiert werden: feinste Allüre. Was Osipova an überirdischer Libellen-Flatter-Schwerelosigkeit über den Boden schweben lässt, kontert Polunin mit kraftvoll abfedernden und geschmeidig landenden Sprüngen.

Dennoch erweist sich das Ausdrucksspektrum insgesamt als eher bescheiden. Da ist etwa Osipovas wie festgetackert wirkendes Landmädchenlächeln, das, wenn es die Rolle verlangt, wie auf Knopfdruck in ein enttäuschtes Schmollen umschlägt.

Neue Rollenauffassungen in angestaubten Kulissen

Erschwerend kommt im ersten Akt der Staub der Jahrzehnte hinzu. Darüber können auch tänzerische Höhepunkte wie der glänzend besetzte, ebenso schmissig wie pointiert getanzte Pas de six nicht hinwegtrösten. Man hätte übrigens auf Peter Farmers Pappkulissen verzichten sollen. So, wie man sich ja auch von überkommenen Rollenauffassungen verabschiedet hat. Séverine Ferrolier gibt Giselles Mutter endlich nicht mehr als gestrenge Alte, sondern als selbst noch junge, tatkräftige, dabei aber zutiefst um die Tochter besorgte Frau. Und dann ist da noch Hilarion, der, mit der Vergeblichkeit seiner Liebe zu Giselle böse konfrontiert, das tödliche Verhängnis überhaupt erst in Gang setzt. Der hochgewachsene Matej Urban verleiht ihm, das ist neu und absolut stimmig, eine zornige Würde. Alle anderen aber werden überstrahlt von Prisca Zeisel als Myrtha im Nebel-und Spinnweb-umwehten zweiten Akt: Die junge Österreicherin vom Wiener Staatsopernballett, bisher unter Demi Solo gelistet, ist feingliedrig und scheint wie in gläserner Schönheit über die Tanztechnik erhaben zu sein. Sie ist begabt mit enormer Bühnenpräsenz.

In seinem erwartungsgemäß eng gesteckten ästhetischen Rahmen, diktiert von unleugbarem Gespür für Qualität und souveräner Professionalität, hat Igor Zelensky bisher effektive Arbeit geleistet und die Weichen für die Weiterfahrt gestellt. In den ersten beiden Spielzeiten sollen vor allem abendfüllende Klassiker dafür sorgen, die 2100 Plätze des Nationaltheaters zu verkaufen. Leider ignoriert er dabei, dass sich das Münchner Publikum schon längst auch für den nicht immer eingängigen zeitgenössischen Tanz begeistern kann. Der nächste nahezu Neunzigjährige wird übrigens schon zur Einstudierung an der Weihnachtspremiere in München erwartet: Jury Grigorowitsch, Choreograf der pathetischen Helden-Schmonzette "Spartakus".

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