Tanztheater:Große Kraft in kleinen Gesten

Anna Karenina

Für das Paar Kitty (Laurretta Summerscales) und Lewin (Jonah Cook) ist das Glück im Reigen der unglücklichen Familien noch am greifbarsten.

(Foto: Wilfried Hösl)

Als erste Premiere der Saison zeigt das Bayerische Staatsballett Christian Spucks Version von "Anna Karenina". Der Choreograf hat Leo Tolstois Meisterwerk stark eingedampft und richtet den Fokus auf die drei Hauptpaare

Von Rita Argauer

Schon der erste Satz von Leo Tolstois "Anna Karenina" ist so berühmt wie komplex: "Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche ist auf ihre Art unglücklich." Die drei Familien, anhand deren Unglücklichsein ein üppiges Porträt der russischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert gezeichnet wird, zeigen sich auf den mehr als 1000 Seiten anschließend anhand feinster psychologisierender Sprache und unerreicht nuancenreich.

"Man kann das nicht in Tanz übersetzen", sagt Christian Spuck, der Choreograf, der seine getanzte Version davon gerade am Bayerischen Staatsballett einstudiert und damit sein Hausdebüt gibt. "Dieser Roman hat mich immer bewegt wie kein anderer", erklärt er weiter, weshalb er sich letztlich dazu entschieden habe, den Stoff als Handlungsballett auf die Bühne zu bringen. 2014 feierte er mit seiner Hauskompanie in Zürich Premiere, und trotz der eigentlichen Unmöglichkeit dieses Unterfangens läuft diese Karenina seitdem ausgesprochen erfolgreich. Das Bayerische Staatsballett ist die fünfte Kompanie, die die Produktion übernimmt, gerade war sie in Seoul zu sehen, davor in Oslo und Moskau.

Spuck ist nicht der erste, der diesen Stoff vertanzt. In den Siebzigerjahren choreografierte Maja Plissezkaja zur eigens dafür komponierten Musik ihres Ehemanns Rodion Schtschedrin, aktuell hatte John Neumeiers Version beim Hamburger Ballett Premiere, dazwischen gab es mehrere moderne und klassische Versionen.

"Mit der Musik von Schtschedrin hatte ich Schwierigkeiten", sagt Spuck, und Tschaikowski zu nehmen sei ihm zu einfach, denn der steht für russische Ballettmusik wie kein anderer; also entschied sich Spuck für eine Collage aus Stücken Sergei Rachmaninovs und Witold Lutosławskis. Diese Kombination weist auch auf seinen ästhetischen Zugriff: Die russische schwere bis schwelgende Romantik wird durch einen dekonstruktivistischen Ansatz bereichert.

Die tänzerische Neukonstruktion war für Spuck erst einmal eine dramaturgische: "Man muss dieses Mammutwerk eindampfen." Also reduziert er den Fokus auf die drei Hauptpaare Anna Karenina und Wronski, Kitty und Lewin, sowie Dolly und Stiwa. "Vieles, was im Buch groß ist, findet sich hier nur in kleinen Gesten", sagt er, und um die psychologischen Tiefenbohrungen Tolstois nachzuempfinden, nutzt er weitere Mittel wie die Musik, deren Rolle durch eine Sängerin und einen Pianisten auf der Bühne verstärkt wird.

Ein eher klassisch getanztes Handlungsballett erscheint angesichts der Arbeiten von William Forsythe oder Jiří Kylián, die Ende des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur Abstraktion des Balletts beitrugen, ein wenig altmodisch. Doch für Spuck schließt sich das nicht aus: "In den Neunzigerjahren war die Handlung der Ballette vielleicht eher philosophisch als narrativ", erklärt er, dennoch stehe in beiden Fällen der Mensch im Zentrum der Arbeit. Er selbst sieht sich von diesen Werken genauso beeinflusst wie von den Klassikern. Die Handlung soll aber nicht zur "Folie für technisch brillanten Tanz" verkommen, er versuche vielmehr eine "Wahrhaftigkeit" auf die Bühne zu bringen.

"Anna Karenina" ist dabei seine sicherlich klassischste Choreografie, und auf Birkenwälder wird im Bühnenbild ebenso wenig verzichtet, wie auf stilechte Kostüme. "Eigentlich ist das kein Ballett, sondern ein Schauspiel mit Bewegung", sagt er, doch natürlich finden sich auch hier tänzerisch virtuose Szenen. Das technische Niveau der Münchner Kompanie beeindrucke ihn, doch um die Komplexität der Karenina auch im Tanz greifbar zu machen, fordert er von den Münchner Tänzern gerade mehr: "Die Tänzer müssen auch Künstler sein und Verantwortung für die Rollen übernehmen."

Anna Karenina, Premiere: Sonntag, 19. November, 19.30 Uhr, Nationaltheater, Max-Joseph-Platz 2

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: