Tanz und sexuelle Übergriffe:Selber denken, Giselle!

Neue Suite

István Simon – hier mit Anna Merkulova in William Forsythes „Neuer Suite“ – hat dem Ersten Ballettdirektor vorgeworfen, er habe ihn verbal sexuell belästigt. Seitdem ist in Dresden nichts, wie es war.

(Foto: Hulton Archive/Getty Images)

Das Semperoper-Ballett ist durch einen "Me Too"-Fall in eine tiefe Krise geraten. Aus den Fehlern, die in Dresden gemacht wurden, könnte die Tanzwelt ein paar Dinge lernen.

Von Dorion Weickmann

Ein Solist gefeuert, der leitende Ballettmeister angezählt, die Führungsriege angeschlagen, das Ensemble im Zwiespalt, oder, kürzer: Das Semperoper-Ballett steckt in der Krise. Aus einer mit "Me Too" etikettierten Affäre (SZ vom 21. Februar) ist eine Situation geworden, in der niemand gewinnt. Keine Konfliktpartei geht unbeschädigt aus der Auseinandersetzung hervor. Das Desaster in Dresden weist auf Schwachstellen im Personalmanagement hin, die in ähnlicher Weise auch an anderen Theatern existieren. Der Intendant der Semperoper, Wolfgang Rothe, kündigt im Gespräch an, er wolle "Optimierungsbedarf" prüfen. Was soviel heißt wie: Es ist einiges schiefgelaufen.

Das Verhängnis nahm im vergangenen Herbst seinen Lauf. Inzwischen füllen die Details mehrere Aktenordner, die Angaben und Ansichten der Parteien sind widersprüchlich, ja, gegensätzlich. Fest steht, dass im Dezember der Erste Solist István Simon dem Ballettdirektor Aaron Watkin gegenüber erklärte, dass ihn der Erste Ballettmeister Gamal Gouda verbal sexuell belästigt habe. Simon legte die Anschuldigung schriftlich nieder, die Oper betraute eine Anwaltskanzlei mit der Klärung des Sachverhalts.

Hätte sich diese professionelle und menschliche Katastrophe vermeiden lassen? Wahrscheinlich

Gamal Gouda bestritt die Vorwürfe durch eine eidesstattliche Erklärung. István Simon unterzog sich einem Lügendetektortest. Er schaltete ebenfalls Juristen ein und lehnte eine Kooperation mit dem von der Oper beauftragten Anwaltsbüro ab. Gleichzeitig kam es zu arbeitsgerichtlichen Verfahren, schließlich zeichnete sich das Scheitern der externen Untersuchung ab. Mit der Konsequenz, "dass man nicht weiß, was geschehen ist", sagt Intendant Rothe. Zuletzt sprach die Oper dem Tänzer eine außerordentliche Kündigung aus und begründete dies mit der Zerstörung des Vertrauensverhältnisses.

Hätte sich diese professionelle und menschliche Katastrophe vermeiden lassen? Ist sie ein Einzelfall? Und wie verhält sich das Ensemble? Wer mit den Beteiligten spricht, stellt zunächst fest: Niemand hat alles verkehrt, keiner hat alles richtig gemacht. Aaron Watkin und sein Leitungsteam erkennen im Rückblick, dass eine frühzeitige Mediation oder Supervision die Eskalation vermutlich aufgehalten hätte. Solche Instrumente aber sind im Theaterbetrieb rar, vor allem im Tanz beschränkt sich das Personalmanagement auf den Kreislauf von Training, Probe, Vorstellung.

Nicht umsonst wird dabei häufig der irreführende Vergleich mit dem Hochleistungssport bemüht. Natürlich müssen Tänzer ihr Instrument, den Körper, virtuos beherrschen. Doch der Kern ihrer Kunst hat mit Persönlichkeit zu tun, mit innerer und äußerer Autonomie, mit selbständigem Fühlen, Denken und Handeln. Diese Eigenständigkeit wird ihnen häufig schon in der Ausbildung verweigert oder gar systematisch aberzogen. Tänzer sollen sich eingliedern und funktionieren. Darauf wirken erst Pädagogen, später Ballettmeister hin, die keineswegs zwangsläufig einschlägige Aus-, geschweige denn Fortbildungen vorweisen müssen. Angesichts der enormen Verantwortung, die der Beruf mit sich bringt, ist das ein Unding.

Das Binnenklima der Branche ist geprägt durch "Angst, Angst, Angst"

Zur Unmündigkeit erzogene Tänzer tun, was verlangt wird. Sie machen den Mund erst auf, wenn sie ausgestiegen sind. Genauso verhält es sich auch in Dresden. Mehrere Ex-Mitglieder der Kompanie berichten, dass sie mit Gamal Gouda aufgrund seines autoritären Gebarens - von sexuellen Übergriffen ist nicht die Rede - aneinandergeraten und deshalb auch in der Chefetage vorstellig geworden sind. Von "Spannungen" in der Zusammenarbeit mit dem Ballettmeister spricht auch ein früherer Arbeitgeber, der Ex-Direktor des Bayerischen Staatsballetts, Ivan Liška. Zugleich attestiert er dem Kollegen, ein exzellenter Ballettexperte zu sein. An psychologischem Geschick scheint es dem Fachmann dagegen zu mangeln, so der Eindruck, den viele Gespräche vermitteln. Ein Befund, der normalerweise Personalentwickler auf den Plan ruft.

Aus der Semperoper dringen allenfalls anonyme Beschwerden nach außen. Solange niemand offiziell Farbe bekennt, hat die Direktion keinen Grund, offiziell einzugreifen. Zumal die Probleme keine Ausnahme darstellen. Das lässt sich aus den Belastungen ableiten, die Ensemblesprecher deutscher Ballett- und Tanzkompanien bei einem Berliner Treffen zur Sprache brachten. "Angst, Angst, Angst" bestimmt demnach das Binnenklima der Branche. Enormer Konkurrenzdruck und die Sorge, das stets nur um ein Jahr verlängerte Engagement zu verlieren, verunsichern zusätzlich. Das kann und darf nicht so bleiben.

Die Intendanten sind gefordert, ihren Schutzbefohlenen zuzuhören und die Interessen fair auszubalancieren. Umgekehrt dürfen die Künstler nicht länger den Kopf einziehen, wenn die Hierarchie sie unter Druck setzt. Es braucht eine streitbare und offene Ensemblekultur, eine zeitgemäße Personal- und Kriseninterventionspolitik. Denn am Ende handelt es sich nicht um persönliche Fehden, sondern um die Glaubwürdigkeit des Theaters als moralische Anstalt.

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