Tanz:Herzloses Regime

Der neue Direktor am Bayerischen Staatsballett Igor Zelensky, Nachfolger von Ivan Liska, räumt auf: 29 Tänzerinnen und Tänzer verlassen zum Spielzeitende die Kompanie. Der Exodus hat viele Gründe.

Von Eva-Elisabeth Fischer

" Kopf ab!", fordert die Herzkönigin in "Alice in Wunderland". Ob nun beim Tänzer-Knock-out im Bayerischen Staatsballett, bei dem 29 Tänzerinnen und Tänzer zum Spielzeitende die Kompanie verlassen, eine herzlose Dreifaltigkeit aus Kultur-Ministerialdirigent, Opernintendant und neuem Ballettdirektor gemeinsam die Köpfe rollen ließen, sei dahingestellt. Vielleicht erfüllte Igor Zelensky, der Nachfolger von Ivan Liška, ja nur den Willen der mächtigen Allianz von Toni Schmid und Nikolaus Bachler, die im Rollback zur reinen russischen Schule die neue Richtung für eines der größten Ballettensembles der Republik sah. Zelensky jedenfalls hatte Carte blanche zu rigorosem Handeln.

An ein ähnlich radikales Vorgehen eines neuen Ballettdirektors in Deutschland kann man sich nicht erinnern. Zelensky wird neben dem Bayerischen Staatsballett weiterhin das Stanislawski-Ballett in Moskau leiten. Seine Selektion im Ballettsaal liegt wohl auch darin begründet, dass er seine russischen Tänzer in München ebenfalls beschäftigen will. Fair wäre es gewesen, hätte er, wie allgemein üblich, nach längerer täglicher gemeinsamer Arbeit mit den hiesigen Tänzern entschieden.

Die Münchner Neubesetzungen empören auch deshalb so sehr, weil in 18 Jahren bis zu 70 hoch motivierte Tänzer aus 36 Nationen mit unterschiedlichem kulturellen und stilistischen Hintergrund zu einem höchst lebendigen Corpus zusammengewachsen sind. Eine Trias mit Ivan Liška an der Spitze, kenntnisreich und kreativ sekundiert von seinen Stellvertretern Bettina Wagner-Bergelt fürs Zeitgenössische und Wolfgang Oberender für die Ballettklassik, erarbeitete mit ihrer Kompanie ein europaweit einzigartiges, vielfältiges Repertoire. Diese Anstrengung wird nun zumindest mit dem Tanzpreis der Stadt München gewürdigt, der zum ersten Mal an ein Leitungsteam vergeben wird.

Immerhin das. Beim Staatsballett oder gar bei den existenziell betroffenen Tänzern und Tänzerinnen ist bisher keine Solidaritätsadresse aus anderen Häusern eingegangen. Offenbar hält man lieber still.

Zelensky tritt, so sagen die, die ihn schon erlebt haben, stets fordernd auf und duldet keine Widerrede. Der autoritäre Führungsstil in den ehemaligen Ostblockstaaten hat Tradition und überlebt zäh, wie das Ballett selbst, alle politischen Systeme. Egal, ob im feudalistischen Russland, als die Tänzer Sklaven des Zaren waren, oder unter dem Sowjetregime, als sie als Künstler des Volkes galten, wie auch aktuell im repressiven Putin-Russland: Eine rigide hierarchische Struktur (wie sie im Westen bis heute Wohl und Wehe des Pariser Opernballetts diktiert) verlangt Unterwerfung. Tänzer, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mehr Freiheit suchten, gingen in den Westen, bevorzugt nach New York.

Auch Zelensky verbrachte fünf Jahre beim New York City Ballet. Englisch gelernt hat er dort offenbar ebenso wenig wie die Erkenntnis gewonnen, dass in Amerika und in Europa andere Umgangsformen herrschen. In München immerhin hat er einen willigen Übersetzer, Interpreten und Mentor: Nikolaus Bachler. So schätzen das zumindest die beiden Ersten Solisten des Bayerischen Staatsballetts ein, die spanische Ballerina Lucia Lacarra und ihr aus Albanien stammender Ehemann Marlon Dino. Die beiden haben einen offenen Brief geschrieben und am Mittwoch zu einer Pressekonferenz geladen.

"Die Tänzer, die bleiben, haben Angst", beschreibt Marlon Dino die Stimmung. Er geht

Beide 14 Jahre lang fest beim Bayerischen Staatsballett engagiert und als Erste Solisten gefeiert in Balletten wie John Crankos "Onegin" und nun zum Abschied in John Neumeiers "Illusionen - Wie Schwanensee", hatten sie das Bedürfnis, öffentlich zu machen, warum sie dem Staatsballett und München künstlerisch den Rücken kehren. Sie sind sich in Dortmund mit Ballettchef Wang Xinpeng einig geworden und in London mit Russell Maliphant, in dessen Kompanie sie rein zeitgenössisches Repertoire tanzen werden - Neuland, das ihnen wie vordem schon der Starballerina Sylvie Guillem oder dem Ballettwunder Michail Baryschnikow eine längere Karriere als im akademischen Tanz ermöglicht.

Ja, Igor Zelensky habe sie beide gewollt. Und sie lieben München, lieben das Nationaltheater. Nach ergebnislosen Gesprächen von Oktober bis März, Mentalitäts- und auch sprachlich bedingten Missverständnissen und schließlich einem Ultimatum Zelenskys, sein Angebot unwidersprochen anzunehmen, habe man beschlossen, neue Wege zu gehen. Schließlich: Warum sollten sie für ein oder zwei Vorstellungen neue Ballette wie Christopher Wheeldons "Alice im Wunderland" lernen? Denn bei fünf neuen Solistenpaaren kommt bei 70 Vorstellungen pro Spielzeit jedes nur 14 Mal dran - ein verlorenes Jahr, das sich Lacarra und Dino, nach wie vor international bestens im Geschäft, nicht leisten wollen und können. "Die Tänzer, die bleiben, haben Angst", beschreibt Dino die Stimmung im Staatsballett. Denn da ist weit und breit kein Herzkönig in Sicht, der Gnade walten ließe.

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