Tagebücher von Hans Werner Richter:"Verkleinern sie mich, um selbst größer zu werden?"

Der wache politischer Instinkt von Hans Werner Richter, dem Gründer der Gruppe 47, war größer als seine literarische Urteilskraft. Das zeigen seine Tagebücher aus den Jahren 1966 bis 1972, die jetzt erschienen sind. Darin entlädt er sein Minderwertigkeitsgefühl gegen anerkannte Autoren - Martin Walser beispielsweise bezeichnet er als "gefährdeten Psychopathen".

Helmut Böttiger

Hans Werner Richter

Hans Werner Richter galt als Vater der legendären Schriftstellervereinigung Gruppe 47, die im Nachkriegsdeutschland kulturpolitisch Furore machte. In seinen Tagebuchaufzeichnungen geht er vor allem seine literarischen Rädelsführer an.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Wer sich von diesem Tagebuch aufregende intime Enthüllungen und dramatische persönliche Szenarien verspricht, hat Hans Werner Richter völlig falsch eingeschätzt. Für ihn war vor allem das Politische das Private. Sämtliche emotionale Verwicklungen beziehen sich bei ihm auf gesellschaftliche Aktivitäten. Als Gründer der Gruppe 47 wirkte Richter gleichzeitig auf die literarische wie auf die politische Szene der frühen Bundesrepublik ein - ein intellektueller Typus, der heute ausgestorben zu sein scheint oder nur noch als Medienjunkie existiert.

Sein erst jetzt aufgefundenes und ediertes Tagebuch betrifft allerdings nur die Jahre 1966 - 1972, also einen kurzen Ausschnitt aus der Endzeit der Gruppe 47, deren letzte offizielle Tagung 1967 stattfand. Den Hauptanteil der Eintragungen machen Fernsehdiskussionen aus, die Richter einst in Berlin veranstaltete - frühe Talkshows, in denen der umtriebige Publizist Personen aus Politik und Kultur für die dritten regionalen Fernsehprogramme zusammenbrachte.

Auslöser dafür, entgegen früheren programmatischen Äußerungen ein Tagebuch zu führen, waren für Richter unerwartete Angriffe von links: 1966 warfen in der Zeitschrift Konkret die Schriftsteller Robert Neumann und Hans Erich Nossack der Gruppe 47 "Cliquenwirtschaft" und "Opportunismus" vor. Richter erkannte das im Vorfeld der 68er-Bewegung als Signal. Er sah sich an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt und zeichnete im Folgenden auf, was er an literatur- und medienpolitischen Aktivitäten entfaltete.

Überraschende neue Töne gibt es in diesem Tagebuch nicht - nach der mustergültigen Edition des umfassenden Briefwechsels von Richter, die Sabine Cofalla 1997 vorgelegt hat, war das auch nicht mehr zu erwarten. Als zeitgeschichtliches Dokument ist es dennoch aufschlussreich. Man kann hier genau studieren, wie Richters tagespolitischer Instinkt funktionierte. Zwischen 1966 und 1972 erfolgte nach der ersten Großen Koalition der Machtwechsel durch Willy Brandt, auf den Richter zwei Jahrzehnte lang hingearbeitet hatte. Aber parallel dazu musste er erkennen, dass die Gruppe 47, mit der sein Name vor allem verbunden wurde, obsolet geworden war.

Selbstaufgabe für eine Utopie

Grund dafür waren nicht nur die jungen Literaten aus einer neuen, sich radikal gebenden Generation, die er als "Bürgersöhne" erkannte, "die Revolution spielen". Besonders sinnfällig waren für Richter die Attacken Robert Neumanns, des älteren linken Emigranten. Das aktualisierte seine Erfahrungen am Ende der Weimarer Republik, als sich die Linke untereinander zerfleischte. Richter selbst emigrierte 1934 für ein knappes Jahr nach Paris, und die dogmatischen Verhärtungen der verschiedenen linken Emigrantengruppen dort erlebte er als einen Schock.

Das führte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik zu seiner reservierten Haltung den Emigranten gegenüber. Was sich dann im Laufe der 68er-Bewegung abspielte, erinnerte ihn sofort an die Zersplitterung der Linken, die den Nazis vor 1933 den Boden bereitet hatte, an die aggressiven Fraktionierungen, die militante Polemik. Richter wünschte sich förmlich, dass die Schriftsteller "wieder in den Elfenbeinturm zurückkehren": "Sie sind wieder einmal dabei, sich selbst aufzugeben, für eine Illusion, für eine Utopie, und der Vorschnellste ist wiederum der stilistisch Beste und politisch Dümmste von ihnen: Martin Walser."

Enzensberger, der Playboy

In der Charakterisierung seiner schillernden literarischen Rädelsführer läuft Richter zu journalistischer Hochform auf: Enzensberger - ein "internationaler Abenteurer und literarischer Playboy unserer Zeit"; Walser - "ein gefährdeter Psychopath, der immer dann, wenn er sich in einer schöpferischen Krise befindet, nach dem Strohhalm Politik greift", und Grass, mit dem sich Richter eigentlich verbunden fühlt, "verliert, je mehr er sich in die Parteipolitik verstrickt, immer mehr an Humor".

Die politischen Einschätzungen Richters erweisen sich aus heutiger Sicht oft als verblüffend hellsichtig. Aber ihn treibt ein Problem um: Er hat es mit genuinen Literaten zu tun, und er selbst wird als solcher nicht wahrgenommen. Schon seit Mitte der Fünfzigerjahre hat er seine literarischen Ambitionen zurückgestellt und sich bei den ästhetischen Debatten in der Gruppe 47 zurückgehalten; man ließ ihn des Öfteren spüren, dass seine Vorstellungen von Stoff und Form nicht auf der Höhe der Zeit waren. Er zog sich in die Rolle des Patriarchen und umsichtigen Herbergsvaters zurück, wollte aber nicht darauf festgelegt werden: "Immer nur Bonhomie, nicht mehr, nur dies! Verkleinern sie mich, um selbst größer zu werden?"

Richters Minderwertigkeitsgefühl entlädt sich häufig in Ressentiments gegen die anerkannten Autoren: "Heinrich Böll lässt sich zurzeit in Russland feiern und Günter Grass in Amerika. So hat jeder seine Supermacht." Am folgenreichsten zeigen sich Richters literarische Grenzen bei seiner Einschätzung Paul Celans. In einem Rückblick, aus Anlass von Celans Selbstmord 1970, beschreibt er die Szene auf der Gruppentagung 1952, als ihn "Celans Stimme an Goebbels erinnerte".

Er hatte einen instinktiven Abscheu vor allem, was er mit Pathos, mystischem Geraune und nationalsozialistischem Schwulst verband. Celan, Stefan George und die weihevollen Blut- und Bodendichter standen für ihn unisono auf der falschen Seite. Mit offenem Antisemitismus, wie er im Deutschland jener Jahre immer noch gang und gäbe war, hatte Richters Ablehnung Celans nichts zu tun. Aber dass ihm nicht bewusst wurde, was er mit seinem unsäglichen Vergleich bei dem überlebenden Juden Celan auslösen musste, wirft ein bezeichnendes Licht auch auf seine politische Haltung.

1989 auf dem Mars

Die vielen Eintragungen über seine Fernsehsendungen wirken heute eher ermüdend. Und auch manche Diagnosen Richters machen einen arg zeitgebundenen Eindruck. Dass das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts im Zeichen eines Konflikts zwischen der Sowjetunion und China stehen würde, ist eher Richters Trauma sozialistischer Bruderkämpfe geschuldet. Und seine Fortschrittsgläubigkeit erscheint mittlerweile ziemlich naiv: Die Mondlandung 1969 verändert für ihn sämtliche Perspektiven für die Menschheit, in 20 Jahren werde man schon auf dem Mars sein und ganz neue Debatten führen. "In 20 Jahren": das wäre 1989 gewesen.

Trotz seines Pragmatismus ist Richters Eitelkeit, was die Gruppe 47 anbelangt, unverkennbar. Er verzeichnet minutiös, wer ihn nach 1967 alles anfleht, eine neue Tagung einzuberufen, bis hin zum "intellektuell glatten und kalten" Alexander Kluge. Angesichts neuerer Wortmeldungen ist ein Eintrag zu Gabriele Wohmann interessant: "Ich war allein und sie unter der schwarzen Bluse 'oben ohne'. Aber sie ist so männlich, oder so wenig weiblich, dass ich es kaum registriert habe. Vielleicht ist alles an ihr ein wenig zu wenig, zu dünn, zu nichtssagend. Dafür trank sie klaren Korn. Zwei Stunden lang sprach sie von der 'Gruppe 47'. Sie bat mich förmlich, doch wieder damit anzufangen. Ohne die Gruppe 47 sei das Leben kein 'literarisches Leben' mehr. Alle dächten so. Alle sehnten sich zurück." Damals redeten alle von Richter, und dieser war sich dessen bewusst. Merkwürdig, wie weit das inzwischen zurückzuliegen scheint.

Hans Werner Richter: Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972. Herausgegeben von Dominik Geppert in Zusammenarbeit mit Nina Schnutz. Verlag C. H. Beck, München 2012. 382 Seiten, 24,95 Euro.

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