Tagebuch:Sie gehen nicht auf jede Party

"In die neue Zeit": Michael Rutschkys Aufzeichnungen über die Jahre 1988-1992 geben Einblick in die Seele West-Berlins.

Von Jens Bisky

Das Silvesterfeuerwerk betrachteten die Rutschkys vom Kreuzberg aus, inmitten einer Menschenmenge, die plötzlich Angst durchzuckte, weil ein paar Jungs ihre Schwärmer im Gedränge losließen. Doch man wusste sich zu helfen, bildete um die "kriegerischen Jungs" einen freien Platz, "und sie verstanden, dass ihnen dieser als Schlachtfeld zugewiesen wurde. Andernfalls hätten sie Ärger bekommen - und so ließen sie ihr Zeug dort knallend verenden".

Mit dieser schönen Szene urbaner Konfliktvermeidung beginnen Michael Rutschkys Aufzeichnungen aus den Jahren 1988 bis 1992, Tagebuchnotizen eines Essayisten, der seine Eindrücke auf der Straße, in Kneipen und Läden, bei zufälligen Treffen und regelmäßigen Telefongesprächen aufsammelt. "Sensationen des Gewöhnlichen" versprach vor zwei Jahren eine erste Auswahl, Notizen aus den frühen Achtzigern, den Kohl-Jahren, in denen vieles tatsächlich sensationell banal wirkte. Damals hatte Rutschky die Rolle eines öffentlichen Intellektuellen erprobt, einen ethnologischen Blick auf den publizistisch-kulturellen Komplex der Republik entwickelt und dabei einige Untugenden seines Milieus klug vermieden: Stillosigkeit etwa, Verbissenheit oder das leitartikelhafte Bescheidwissen.

Auch durch den neuen Band geistern bekannte oder bekannt gewesene Kulturbetriebsmenschen, aber man sollte sich davon nicht täuschen lassen. Es geht nicht um den Betrieb. Die Aufzeichnungen 1988 bis 1992 zeigen den urbanen Intellektuellen, den Bewohner der großen Stadt West-Berlin. Er beherrscht das paradoxe Zugleich von Neugier und Desinteresse, die großstadttypische Form der Aufmerksamkeit, indifferent und hellhörig in einem. Rutschky ist ein leidenschaftlicher Fotograf, wovon in seinen Aufzeichnungen oft die Rede ist. Und so wie ein Fotograf scheint er sich dem Leben überhaupt zu nähern, stets auf Motivsuche, aber doch unwillig, selbst ins Bild zu kommen, sich zu verwickeln. Es geht darum. Die Zumutungen - Lärm, Gerüche, Geschwätz - werden ins Bild oder in die elegant protokollierte Szene gebannt.

Tagebuch: Michael Rutschky: In die neue Zeit. Aufzeichnungen 1988-1992. Berenberg Verlag, Berlin 2017. 288 Seiten, 25 Euro.

Michael Rutschky: In die neue Zeit. Aufzeichnungen 1988-1992. Berenberg Verlag, Berlin 2017. 288 Seiten, 25 Euro.

Zu den besonderen Zumutungen der späten Achtzigerjahre gehörte der Wind des Wandels. Wer ihn im Rücken glaubte, schrieb oft schlecht. Anders Rutschky, der vorher schon DDR und Ost-Berlin kannte, dort Freunde hatte. Seine Aufzeichnung vom 9. November sähe man gern in den Schulbüchern gedruckt: "Obwohl R." - so nennt der Autor sich im Tagebuch - "Günter Schabowski bei der Pressekonferenz zuschaut, versteht er nicht richtig. Die Grenzen sind offen. Um die tschechoslowakische Regierung nicht länger in Verlegenheit zu bringen . . . Sie gehen ins Kino. Zurückgekehrt, verfolgen sie im TV die ersten Schritte der DDR-Bürger in die Freiheit. ,Wollen wir hingehen?'. Nein, sie sind zu müde. Dabei läuft heute Nacht die Party des Jahrhunderts, wie R. wohl ahnt. Aber sie gehen ja nicht mehr auf Partys."

Abgeklärtheit und coole Pose überzeugen, weil sie sich selbst misstrauen. Als R., also Rutschky, mit seiner klugen Frau, der 2010 verstorbenen Autorin Katharina Rutschky zum ersten Mal durchs Brandenburger Tor gegangen war, dankte sie, dass er sie nicht gefragt habe, ob sie weinen möchte. Er selbst aber hatte mit den Tränen gekämpft.

Dennoch bleiben die Beobachtungen aus der "zweiten Stadt", aus Ost-Berlin, und aus dem Beitrittsgebiet meist Reporterklischees. Es fehlt die erhellende Komik, die Rutschkys Berichte über eine USA-Reise auszeichnen. Man kann hier noch einmal studieren, wie schwer es in den frühen Neunzigern war, vernünftig über deutsch-deutsche Unterschiede und Verklemmungen zu reden.

Der Titel - "In die neue Zeit" - ist von Skepsis imprägniert. Er gilt nicht allein den politischen Umbrüchen, sondern mehr noch dem Altern. Zipperlein, Krankheiten, Tod prägen viele Gespräche. AIDS und Krebs machen die Runde, Kollegen, Jugendfreunde, Eltern sterben. Andere blamieren sich mit Krampfjugendlichkeit.

So fein die Sätze klingen, so routiniert wirken manche Beobachtungen, so ermüdend wirkt die Wiederholung. Werden sie wieder ins Lokal "Mora", Großbeerenstraße, gehen? Wird wieder ein Ostmensch unzulänglich scheinen, wieder eine Freiberuflerin ihre Unbeholfenheit erweisen? Wird wieder Körpergeruch stören, noch einmal Dicklichkeit moniert?

Leseprobe

Michael Rutschky vermerkt obsessiv den Leibesumfang von Freunden wie Zugelaufenen. Er versucht, die Menschen zu lesen. Er beschreibt Gesten, Floskeln, Habitus, um etwas Allgemeineres zu erhaschen, Zeitgeist, Lebensformen. Stilkritik ist das bevorzugte Mittel der Welterschließung. Das liefert Pointen, wenn der Kampf mit einem lärmenden Nachbarn beschrieben wird oder die Rutschkys wider Willen Zeugen öffentlichen Geschlechtsverkehrs im Victoriapark werden. Das sei, kommentiert sie ironisch und verwirrt, ein "Ereignis von zivilisatorischer Reichweite". Einer alten Dame in der S-Bahn attestiert er eine "echte Vorwurfspersönlichkeit", von einer anderen heißt es, sie lebe gewiss ohne Mann und fühle "sich anhaltend unglücklich. Ihr gehört die Zukunft".

Diese Form der Stilkritik taugt für stationär gewordene Verhältnisse. Sie eignet sich bestens, im alltäglichen Streit eine Position der Unbelangbarkeit zu erreichen. Sie ermöglicht es, Irritationen zu übergehen, das Alltägliche zu dramatisieren und die großen Dramen beiläufig zu behandeln. Es wird heute gern vergessen, dass 1989/90 vor allem der Westen schockiert war. Ein Großteil der Bundesbürger fühlte sich verunsichert, spürte Panik, fürchtete den Untergang, den Weltbürgerkrieg oder wenigstens um die eigenen Normalitätserwartungen.

R. registriert erstaunlich schnell, wie harmlos ihm Mauer und Osten vorkommen, wie wenig ihm die öffentlichen Aufregungen bedeuten. Darin steckt viel West-Berliner Lebensklugheit. Und so liest man dieses Tagebuch mit Vergnügen, Aufzeichnungen aus einer Welt, die sich neue Zeiten nicht vorstellen wollte.

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