Tage der deutschspachigen Literatur:So dermaßen lala

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Ferdinand Schmalz gewann zu Recht den Bachmann-Preis, John Wray begeisterte. Und doch bleibt nach dem Wettlesen in Klagenfurt die Frage: Gibt es wirklich so wenig gute Texte?

Von Alex Rühle

Tage der deutschsprachigen Literatur. Da lesen natürlich nur die Allerbesten. Schon weil es eine extrem harte Vorauswahl gibt. Monatelang buhlen die Autoren um diese Chance, gewissenhaft sichten die sieben Jurorinnen und Juroren eingesandte Manuskripte und gehen unermüdlich selbst auf Suche nach verborgenen Talenten, sie tragen dazu ihr Bachmann-Headhunter-T-Shirt mit dem Klagenfurter Claim: "Wir müssen wahre Schätze finden." Am Ende laufen die 14 interessantesten Autorinnen und Autoren in die ORF-Arena ein und deklamieren ihre Werke, Hammertexte, jetzig, mutig, witzig, dicht, den Schlussapplaus des Publikums hört man jedesmal vom Lendhafen über den Wörthersee schallen. Nur beim GTI-Treffen im Mai ist mehr los in Klagenfurt. Am Ende gibt es einen Haufen Preise.

Wir alle brauchen Klagenfurt. Gäbe es diesen Wettbewerb nicht, man müsste ihn erfinden

Stimmt leider nicht ganz. Die Tage der deutschsprachigen Literatur sind anscheinend eine extrem basisdemokratische Veranstaltung, jeder, der einen deutschsprachigen Text geschrieben hat, kann im ORF vorbeispazieren und ihn vortragen. Dein Großvater ist letztes Jahr gestorben? Schreib's uff. Voilà, erster Tag, zweiter Text. Ein 25-jähriger Klagenfurter erzählt von der Beerdigung. Ein Text, der sich so langsam und quietschend voranbewegt wie der darin beschriebene Leichenwagen. Ein Text, dessen Autor einem schon beim Vorlesen leidtut, denn was soll eine Jury schon sagen, wenn die Bilder schief und krumm sind, die Sprache holpert und alle Figuren blasse Schemen bleiben?

Nun gut, die Schweizer Jurorin Hildegard Keller sagt, sie finde das "sehr frisch, poetisch und präzise" und würde wahnsinnig gern noch mehr davon hören, ihre Kollegen aber zerlegen den Text nach Strich und Faden. Der Grazer Germanistikprofessor Klaus Kastberger sagt, er sei ja Professor des jungen Germanistikstudenten und werde sich deshalb zurückhalten, um kurz darauf zu sagen, sooo grottenschlecht sei der Text eigentlich gar nicht gewesen.

Eine Frage ist, wie man nur so gschert sein kann wie Klaus Kastberger. Die eigentliche Frage aber, die sich nicht gegen den jungen Debütanten richtet, ist, warum ein derart unlektorierter Text eingeladen und der Kritik ausgesetzt wird. Zumal, wenn direkt im Anschluss John Wray liest. Ein Amerikaner mit Kärntner Wurzeln. Was natürlich schon biografietechnisch ein Topmix ist, lokale Anbindung plus globales Flair (Brooklyn!). Wray hat aber auch bereits drei fulminante Romane veröffentlicht, zuletzt erschien auf Deutsch "Das Geheimnis der verlorenen Zeit".

Hier nun trat er im erzählerischen Maßanzug auf, sein Text "Madrigal" hatte den richtigen Zuschnitt, um einer hermeneutisch versierten Jury genauso zu gefallen wie dem Klagenfurter Publikum, ein atemberaubendes Vexierspiel, Möbiusband und Babuschka, eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte - und die letzte stülpt sich am Ende zurück über die erste, ein Text über Geschwisterliebe und -konkurrenz, über einen Vogelforscher in Neuguinea und einen amerikanischen Diktator, der die Welt via Twitter terrorisiert, alles perfekt ineinander verschachtelt und miteinander vernäht.

Wettlesen in Klagenfurt, 2017: Eckhart Nickel, Maxi Obexer, Karin Peschka, Ferdinand Schmalz, Noemi Schneider, Jackie Thomae, Björn Treber und John Wray (von links). (Foto: Gert Eggenberger/dpa)

Ein junger Klagenfurter Student versus Vollprofi John Wray - das ist, als würde bei den Bundesjugendspielen plötzlich Usain Bolt mitlaufen. Was soll daran Wettbewerb sein? Vor allem aber: Gibt es wirklich derart wenig richtig gute Texte? In Deutschland leben 82 Millionen Menschen, in Österreich noch mal acht, in der Schweiz leben auch noch ein paar, die Deutsch sprechen. Es gibt einen riesigen, üppig florierenden Literaturbetrieb, zig Verlage. Da müssen doch außergewöhnliche Stimmen dabei sein. Die Frage wäre sicher nicht so aggressiv gestellt, wenn im Verlauf der drei Tage nicht immer wieder diese Irritation aufgekommen wäre: Wie jetzt, diese müde Erzählung über einen migrantischen Putzmann, dieser siebte Aufguss eines Entnazifizierungsdilemmas, das soll der Status quo sein?

Am Ende der Lobeshymnen für Wray sagte dann auch noch Klaus Kastberger, John Wray brauche Klagenfurt nicht, Klagenfurt könne froh sein, dass Wray hier vorbeischaue. Das ist schon ein beeindruckender Ruf nach der Abschaffung dieses vierzig Jahre alten Wettbewerbs. Noch dazu durch einen, der das Programm mit zu verantworten hat. Die Sache ist die: Wir alle brauchen Klagenfurt. Gäbe es diesen Wettbewerb nicht, man müsste ihn erfinden. Nicht weil der Betrieb hier vier Tage Klassentreffen in idyllischem Ambiente feiert. Sieben Juroren haben ein Jahr Zeit, gute Texte zu suchen, die Autoren stellen sich dem Urteil einer Jury, das Fernsehen überträgt, Literatur wird sichtbar, im Netz wird mitgefiebert und -getwittert. Und dann? Ein Weltuntergang in fast schon pubertär anmutender Flapsigkeit. Eingedampfte Romanexzerpte, zu vielschichtig für den hier verlangten 25-Minutensprint. Eine Erzählung, die im Kirgisien der Jetztzeit spielt, geschrieben, als komme sie aus dem "Realismusseminar 19. Jahrhundert".

Vielleicht müsste die FAZ-Redakteurin Sandra Kegel mal ein Akquise-Tutorial für ihre Mitjuroren abhalten. Sie hat Sharon Dodua Otoo und Nora Gomringer, die Preisträgerinnen der letzten beiden Jahre, nach Klagenfurt geholt. Stefanie Sargnagel im letzten Jahr dazuzuladen, war sicher auch keine dumme Idee von ihr. Dieses Jahr hat Kegel John Wray ins Deutsche herübergezogen und sie hat auch den Grazer Dramatiker Ferdinand Schmalz über mehrere Jahre hin beschwatzt, es hier doch mal mit Prosa zu probieren. Was sich für ihn auszahlte: Mit seiner sehr gekonnt gebauten Groteske "mein lieblingstier heißt winter" gewann Schmalz, der in Wirklichkeit Matthias Schweiger heißt, den Bachmann-Preis. Eine Geschichte aus der Serviceindustrie, ein Tiefkühlkostfahrer namens Schlicht, der einem seiner Kunden alle zwei Wochen Rehragout bringt. Der Mann, Herr Dr. Schauer, eröffnet ihm, er wolle sich umbringen. In ebenjener Tiefkühltruhe, in der er sieben Jahre das Rehragout angesammelt hat. Schlicht solle ihm bitte bei der Entsorgung seiner selbst helfen.

Die letzen vier großen Siegertexte waren Kalkülkonstrukte, verfasst für diesen Wettbewerb

Skurrile Kleinbürgerfiguren, raffiniert verschaltete Motive, das Ganze so lustig wie abgründig erzählt. Vor allem aber hat der Text einen Rhythmus wie ein Gedicht oder ein Song. Das ist auf tieferer Textebene dermaßen ausgefinkelt, dass etwa der Satz "geweihe aller art, sogar ein zwölfender" aus zwölf Silben besteht. Auch im Vor- und Selberlesen entwickelt dieser Text einen so starken rhythmischen Sog, dass man ihn Thomas Meinecke, dem Bachmann-Preis-Samstagsparty-DJ, für seine Tracklist hätte mitgeben können.

Schmalz und Wray wurden zu Recht ausgezeichnet. Der Rest aber war so dermaßen lala, dass man sich nach zwei Tagen und zehn Lesungen bei Meineckes Betriebsdiscofeier ratlos fragte, wer die anderen Preise gewinnen soll. Glücklicherweise kam dann am Sonntagmorgen noch Eckhart Nickel des Wegs, den man die Tage zuvor stets in leuchtend weißen Hosen durchs angegraute Klagenfurter Stadtbild staksen sah. Er hatte eine gut gebaute Erzählung dabei, die in feinster Bobo-Atmosphäre beginnt, auf einem Biomarkt, aber dann zu einer ziemlich unheimlichen Dystopie wird, David Lynch im Ökoidyll.

Direkt nach ihm las die Schweizerin Gianna Molinari, deren Text von einem echten Fall erzählt: 2010 stürzte ein Senegalese aus dem Schweizer Himmel in ein Maisfeld. Er hatte sich im Fahrwerkschacht eines Flugzeugs versteckt. Dokumentarisch kühl, angereichert mit echten Polizeifotos und Zeitungstexten, verwoben mit der Geschichte eines Nachtwächters, der den Fall während des Dienstes zwar registriert hat, aber nicht verstand, dass da ein Toter vom Himmel kam, und der seither seiner Wahrnehmung misstraut. Der Text bekam den 3Sat-Preis. Kann man machen. Man kann sich aber auch wundern, warum sachliche Kühle, die man hier feiert, anderen Autoren vorgeworfen wird.

Und man muss, mitten im Preisregen, doch noch ein weiteres Problem erwähnen: John Wray hat zuvor noch nie einen Text auf Deutsch veröffentlicht, er wird es voraussichtlich, wenn er wieder nach Brooklyn abgereist ist, auch nie wieder tun. Letztes Jahr gewann Sharon Dodua Otoo, von der vor und nach dem Wettbewerb keine Texte auf Deutsch zu lesen waren. Die Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer, Siegerin von 2015, sagte damals bei der Preisverleihung über sich selbst: "Eigentlich biste nicht Prosa." Und Ferdinand Schmalz ist eigentlich Dramatiker. So waren die letzen vier großen Siegertexte Kalkülkonstrukte, verfasst für den Wettbewerb, der die reiche deutsche Prosalandschaft vermessen soll.

Wollen die alle nicht hier lesen? Weil es zu sehr Casting ist? Weil man keine Lust hat, sich von einem Juror sagen zu lassen, dass der Text einfach ein Achtel kürzer sein müsste? Zumal wenn dieser Juror das dann noch bei fünf anderen Texten sagt? Gibts da draußen am Ende tatsächlich dermaßen wenig Lesenswertes? Oder geben sich die Juroren zu wenig Mühe bei der Suche? Hat das alles mit dem rätselhaften Nationenproporz zu tun, wenn du für meinen Österreicher stimmst, darf auch deine Schweizerin ...? Rätselhaftes Klagenfurt.

Und dann waren da noch die drei Inder, die am Samstagnachmittag auf dem Heiliggeistplatz höflich fragten, ob sie hier doch aus Versehen in Deutschland gelandet seien. Nein, tiefstes Österreich. "Ah, und warum hängt dann überall Angela Merkel?" Angela Merkel ist in Hamburg, beim G 20. Im Vorfeld des Gipfels hatte sie gesagt, die Geschichte lehre, dass "sich zurückziehen und auf das eigene Land konzentrieren" letztlich keinen Nutzen bringe. In Klagenfurt hängt Ingeborg Bachmann mit Pagenschnitt. Und alle Liegestühle sind bedruckt mit ihren Sätzen: "Die Geschichte lehrt, aber sie findet keine Schüler."

© SZ vom 10.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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