Tänzer in Mumbai:Beim Fußvolk von Bollywood

Bollywood

Nein, das Foto stammt nicht vom Set von "Go Goa Gone". Es zeigt John Abraham beim Dreh von "I, Me Aur Main". Aber die Tänzerinnen, die sind der handelsübliche Mix aus Russinnen und Inderinnen.

(Foto: AFP)

Es gibt ungefähr 1,2 Milliarden Inder. Von ihnen wollen ungefähr 1,2 Milliarden zum Film. Viele fangen als Statisten in Mumbai an. Ein Besuch bei Menschen, die in der Hoffnung auf eine winzige Chance die Nächte durchtanzen.

Von Alex Rühle

Die Uferpromenade von Bandra. Einer der wenigen Orte in diesem Monstermoloch, an denen man mal Atem holen kann. Im Hintergrund der Strand, kurz vor Sonnenuntergang. Hier vorn ein gelb gestrichener Saftstand, an dem Altaf Mehta (Name geändert) frisch gepresste Melonensäfte holt. Altaf ist erschöpft von acht Stunden Arbeit. Er ist wie jeden Tag in Colabar auf und ab gelaufen, zehn Kilometer südlich von hier, unten an der äußersten Spitze Mumbais, wo diese Stadt gar nicht am spannendsten ist, aber weil's halt im Lonely Planet steht, trotten alle Touristen zwischen dem Gate of India und dem Café Leopold herum und regen sich darüber auf, dass sie permanent von fliegenden Händlern angequatscht werden, Handys, Uhren, Drogen . . .

Auch Altaf Mehta hat da unten sein Jagdgebiet. Im Gegensatz zu den anderen bietet er aber keine Waren feil, sondern einen Job: Tag für Tag wirbt er Weiße als Statisten für Bollywoodfilme an. "Amis, Europäer, Kiwis, mir egal, ihr seht eh alle gleich aus." Wirklich, nimmt er alle und jeden? "Na ja, Langzeit-Traveller lass ich links liegen. Die sind nach sechs Monaten Indien zu ausgemergelt. Und zu braungebrannt. Je blasser, desto besser. Und je blonder, desto besser. Aber Hauptsache, meine Quote stimmt." Und? Was war heute als Quote vorgegeben? "Ein Studio braucht 25 junge Leute für eine Tanzszene. Ich hab denen vorhin eine Busladung geschickt. Und dich bring ich da jetzt selber hin."

Wunderbar! Ein Bollywoodset, Interviews mit Statisten und wer weiß, vielleicht kann ich sogar selber mitspielen. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Der Erste, der mir versprach, mich mit Statisten zusammenzubringen, war gar nicht erst aufgetaucht. Der Zweite zog mich hinterm Hare-Krishna-Tempel in eine dunkle Gasse und sagte mit beeindruckend kaltem Echsenblick: "Tausend Dollar, dann zeig ich dir alles. Du zahlst jetzt und hier." Das war so jäh grotesk, der Typ war so übertrieben eklig, als sei er selbst einem billigen Bollywoodfilm entsprungen.

Aber egal, Hauptsache, es klappt jetzt doch noch. Ich wollte indische Statisten treffen, das Ornament der Masse, das Fußvolk des Films, all die vielen Tausend, die Jahr für Jahr aus dem ganzen Land hierher gelockt werden in Hoffnung auf - ja, was eigentlich? Sind das Pragmatiker, die diese Jobs nutzen, um ihre Familien in Andhra Pradesh, Orissa, Bengalen zu ernähren? Bollywood, diese riesige Umwälzpumpe, ernährt ja tatsächlich 2,5 Millionen Menschen. Oder glauben die, hier berühmt werden zu können? Irgendwann eine große Rolle zu ergattern in einem der 200 Kinofilme, die hier jährlich gedreht werden? Der in Mumbai lebende Schriftsteller Kiran Nagarkar schrieb mal, wenn es in dieser Stadt so was wie die Erbsünde gebe, dann sei das die Hoffnung . . .

"Soll nach einer Party auf Ibiza aussehen"

Aber Moment mal, Altaf, warum braucht ein indischer Regisseur Europäer für eine indische Tanzszene? Kein Tourist kann doch auch nur annähernd so gut tanzen wie die Leute hier. Wer in Bollywood Erfolg haben will, muss sich perfekt bewegen können, die Choreografien sind oft viel anspruchsvoller als die schauspielerischen Leistungen. Altaf winkt ab: "Die Szene, die heute gedreht wird, soll nach einer Party auf Ibiza aussehen. Da müssen die nur genauso autistisch rumhopsen, wie ihr Weißen halt tanzt." Er knickt in den Knien ein und lässt die Schultern hängen, als sei er ein vollgestopfter Kleidersack, tapst auf der Straße herum und reißt zweimal die Arme hoch, steif wie Papprollen. In sein spöttisches Lachen hinein klingelt das Handy. Altaf hört zu, wirft dann fluchend seinen Melonensaft weg, zischt: "Steig ein!" und rast bei offener Türe in den Verkehr hinein.

Das, was man in Mumbai unter "Verkehr" versteht, hat so viel mit der deutschen Straßenverkehrsordnung zu tun wie ein wüstes Bollywoodzombiemassaker mit den "Tagesthemen". Diese Stadt ist eine zivilisatorische Überdruckkammer, nirgends sonst leben so viele Menschen auf derart engem Raum. Und die Straßen sehen abends so aus, als wolle sich jeder der 20 000 000 persönlich an den anderen 19 999 999 dafür rächen, dass sie ihm den Platz wegnehmen. Dass hier täglich nur zwei Menschen im Straßenverkehr ums Leben kommen, liegt einzig und allein daran, dass eh keiner schneller fahren kann als 30. Außer Altaf, der sich jetzt hupend durch den Blechbrei wühlt. Er muss nach Andheri, weil da gleich die wütenden und enttäuschten Europäer ankommen werden: Der Statisten-Bus wurde von der Polizei angehalten und in die Stadt zurückgeschickt. Aber warum denn? "Weil die Produktionsfirma nicht genug Schmiergeld gezahlt hat." Rätselhaftes Indien.

"Ich kann dich jetzt nicht da hochfahren"

Altaf bringt es fertig, gleichzeitig zu telefonieren, über sämtliche rote Ampeln zu brettern, geröstete Kerne zu futtern und die Sache mit dem Schmiergeld zu erklären: Prinzipiell werden alle Parteien von den Studios bestochen, insbesondere aber die Shiv Sena, die Partei der Hindunationalisten, die seit 1996 xenophobe Hetze über die Stadt gebracht hat. Erst haben sie über die Südinder hergezogen wie hierzulande die NPD über die Türken: Die nehmen uns die Jobs weg, das Boot ist voll. Dann ging es gegen die Muslime. Inzwischen sind auch die Europäer Thema, die angeblich den Indern die Statistenjobs klauen. "Und warum schmieren die Studios die nicht?" "Tun sie doch. Vor jedem Dreh. Aber die Shiv Sena hat die Preise erhöht. Und weil die Studios sagen, dass sie nicht noch mehr zahlen können, wird jetzt dieser Bus mit den Europäern zurückgeschickt. Ich soll stattdessen Chinks organisieren. Kein Problem, ein Anruf und ich hab 150. Aber ich kann dich jetzt nicht da hochfahren, nimm ein Taxi."

Was er nicht dazusagte: Die Taxifahrt dauert zweieinhalb Stunden. Zweieinhalb Stunden Drängeln, Hupen, Lückenfinden und in diesem Gewühl immer weiter in Richtung Norden treiben, vorbei an all den riesengroßen, grell angeleuchteten Filmplakaten, die über dem trübgrauen Häuserozean schweben wie der kollektive Traum vom besseren Leben. Neuerdings wachsen neben diesen Kinotafeln die Werbetafeln riesiger Bauprojekte in den Himmel. Passt ja auch zusammen, all die funkelnden Immobilien, die plötzlich aus dem Boden wuchern, sind das architektonische Pendant zu Bollywood, Skyscraper, in denen die Mittelschicht möglichst hoch hinaus will aus den so gnadenlos beengten Verhältnissen. Die Tafeln machen dieselben Versprechen wie die Filme: Lass alles hinter dir, hier oben ist der Ort des besseren Lebens.

Angeblich ein Zombiefilm

Es ist halb elf, als wir ankommen. Fragt sich nur, wo genau. Da ist nichts. Die letzten zwanzig Minuten sind wir über unbeleuchtete Wege getuckert, es riecht nach Fisch, und wir stehen inmitten von Mangroven. Nebelschwaden. Ein räudiger Hund. Es gibt gemütlichere Orte für eine Recherche. Da kommt aus dem Gebüsch ein Wachmann mit einem Gewehr, das schon Rudyard Kipling gedient haben könnte: "You want Movie?"

Ein Strand mit Booten. Zwei Fischerhütten wurden knallbunt angemalt und zu Strandbars umdesignt. Hier wird jetzt durchgetanzt bis in den Morgen. Ein so langweiliger wie anstrengender Job, für den es 800 Rupien gibt, circa 13 Euro.

In der ersten Reihe tanzen sechs schlanke Russinnen um Saif Ali Kahn, den Star des Films, herum. Dahinter kommen Inderinnen. Und dann im Hintergrund, als optisches Füllmaterial, die "Chinks", wie Altaf die Komparsen nannte, die er an Stelle der Europäer organisiert hat und die allesamt chinesisch oder birmanisch aussehen: Chink ist ein übles Schimpfwort für Asiaten. Dabei sind diese Leute allesamt ebenfalls Inder. Sie stammen aus "North-East India", den sieben Provinzen, die heute hinter Bangladesch liegen, dem wohl größten Armenhaus Indiens.

Der Film heißt übrigens "Go Goa Gone" und sollte eigentlich schon Ende Januar in die Kinos kommen. Der Aufnahmeleiter bricht das Tanzgetümmel jeweils spätestens nach einer Minute ab und fordert die Russinnen fast schon mantraartig auf: "Gimme more! More body! More hips!"

Inwiefern diese schwüle Tanzszene dazu passt, dass das Ganze angeblich ein Zombiefilm wird, muss genauso ein Rätsel bleiben wie die Frage, warum die Szenerie von der Regie von Ibiza nach Rio verlegt wurde, nachdem klar war, dass heute Nacht statt der Europäer Asiaten kommen würden. Hier tun jetzt also Russinnen und asiatisch aussehende Inder so, als seien sie Südamerikaner. Und Rio liegt in Malad am Strand, wo gerade groß und rund der Mond aufgeht und allen hier unten einen Vogel zeigt, eine riesige Möwe, die quer übern Ufersaum fliegt.

Vom Set aus sieht man die Hochhäuser von Malad. Einer der höchsten Wohnblöcke dort ist das Dheeraj Solitaire, ein Haus, das heute stadtberühmt ist: Hier lebte die Statistin Maria Susairaj, Maria, die aus Südindien nach Mumbai gekommen war, weil sie wie so viele hoch hinauswollte. Neeraj Grover, ein junger Fernsehmitarbeiter stellte der Schauspielaspirantin große Rollen in Aussicht, verschwieg ihr aber, dass er selbst nur ein kleines Rädchen in seiner Firma war.

Alle hier am Set kennen die Geschichte, allerdings in verschiedenen Versionen. Immer aber geht sie so aus, dass am Ende Marias Verlobter den 25-jährigen Grover erstach, seinen Körper in mehrere Teile zersägte und dann zusammen mit Susairaj versuchte, die Fleischbatzen zu verbrennen. Als das Ganze rauskam, gaben gleich mehrere Produktionsfirmen Drehbücher in Auftrag, "einfach weil es die ultimative Geschichte über Bollywood ist", wie der Produzent Ram Gopal Varma sagte.

Als um zwei Uhr nachts endlich Drehpause ist, sitzen die Statisten im Essenszelt genauso getrennt nach Ethnien wie auf dem Set: links die Inder. Rechts die Russinnen. Und draußen die anderen Inder, die aus Mizram, Assam, Manipur.

"Ich hab schon alles gemacht"

Die Tänzerinnen aus Mumbai unterhalten sich über Drehs, Studios und den Frust, nach langen Aufnahmesessions am Ende doch wieder rausgeschnitten worden zu sein. Anjali aus Bangalore sagt, ihr größter Erfolg war mal zweite Reihe Tanz, in einer Produktion mit der Schauspielerin Sonal Seghal. Leider wurde der Song im Film nicht zur Gänze gezeigt. "Und? Warst du zu sehen?" "Kurz." Und wie kriegt man nun Rollen? "Ich könnte dir da jetzt viel erzählen, aber für Frauen lautet die Faustregel: Je kürzer der Rock, desto größer die Chance."

Shailesh, ein 23-jähriger Junge mit schwarzem Pepita-Hut, zuckt mit den Schultern: "So ist das nun mal. Ich würde alles machen, um berühmt zu werden, wirklich alles." Sein Freund Maddy ruft: "Ich hab schon alles gemacht." Alle umstehenden Jungs lachen dreckig. Maddys Lächeln ist schwer zu deuten, man weiß nicht recht, ob es ihm leid tut, oder ob er stolz darauf ist, schon alles gemacht zu haben. Gebracht hat es ihm jedenfalls bisher nicht sonderlich viel. "Aber ich plane was Großes." Oh, was denn?" "Ich weiß noch nicht genau, aber es wird groß."

Jeder von ihnen kennt hier Geschichten wie die vom 28-jährigen Filmautor aus Uttar Pradesh, dessen Drehbuchvorschläge von seinem Lieblingssender immer wieder zurückgeschickt worden waren. Schließlich verkleidete er sich an einem der Hindu-Feiertage als Priester und schmuggelte sich so ins Studio. Leider merkten die Wachmänner schnell, dass er keine Gebete, sondern nur irgendwelchen Nonsens vor sich hin murmelte und warfen ihn raus. Der Mann übergoss sich vor dem Studiogelände mit Benzin und zündete sich an. Oder die beiden pakistanischen Jungen, die sich durch die Minenfelder von Kaschmir auf indisches Gebiet durchschlugen. Sie wurden als Terroristen verhaftet und tagelang verhört. Am Ende glaubte ihnen das Militär: Sie wollten kein Attentat verüben, sondern träumten nur davon, einmal im Leben als Statisten mit Shah Rukh Khan aufzutreten.

Draußen vorm Zelt aber sitzen Kuri, Alvas und Hring und können nur lachen, wenn man sie nach ihren Träumen fragt. "Mein Traum?", sagt Hring, "ich kann dir nur den Albtraum heute Nacht erzählen, Soldaten bei uns im Haus in Manipur . . ." Alvas, ein gutaussehender Junge von 21 Jahren, der mit nacktem Oberkörper und orangen Hosenträgern im Sand sitzt, sagt auf die Frage nach seinem größten Wunsch: "Dass ich mit meinen Eltern lebe, bis ich 55 bin." Und? Warum tust du's nicht? "Weil meine Mutter erschossen wurde, als ich elf war. Bei uns im Hinterhof."

"Keiner von uns kann sich die Hoffnung auf Ruhm leisten"

Alvas kommt ebenfalls aus Manipur, wo er als Model und Tänzer gearbeitet hat und wohl auch eine Art Stadtberühmtheit war, ein kleiner Song im Internet . . . Seit drei Jahren ist er jetzt hier in Mumbai. Anfangs war da sicher die Hoffnung auf den großen Durchbruch. Hier am Strand aber klingt er nur ratlos und nach Heimweh. Auf die Frage, wie ihm das Leben als Statist gefalle, sagt er einen Satz, der nicht so recht zu seinen 21 Jahren passt: "Weißt du, das Leben macht nicht das, was wir uns wünschen."

Alvas, Hring und die 30-jährige Kuri bekommen übrigens 100 Rupien weniger für die Nachtschicht als die anderen Inder. Sie haben alle Berufe und machen das hier als Nebenjob. "Keiner von uns kann sich die Hoffnung auf Ruhm leisten", sagt Kuri. "Wenn eine Produktionsfirma wirklich mal eine Rolle mit einer Asiatin besetzen will, würden sie gar nicht auf die Idee kommen, eine von uns zu fragen. Die wird dann aus Bangkok eingeflogen."

Die Pause ist vorbei, alle müssen wieder ran und klassenübergreifende Leichtigkeit spielen, der nächtliche Tanz in Rio geht weiter und diesmal schmuggelt sich auch kurz ein Deutscher aufs Set, der ganz hinten, letzte Reihe, der, der etwas ungelenk herumtapst und die Arme auf europäische Papprollenart in die Luft wirft.

Als später, auf der langen Fahrt zurück ins Zentrum, das Telefon klingelt, ist Altaf Mehta dran. Er klingt gehetzt: "Bitte erwähn mich auf keinen Fall mit meinem Namen!" Aber warum denn nicht? "Was ich über die Shiv Sena gesagt habe . . . wenn die das lesen, bin ich geliefert." Aber die lesen doch keine deutschen Zeitungen. "Hör mal, wenn denen was nicht passt, entsorgen sie dich im Fundament eines Autobahnpfeilers. Wach endlich auf, das hier ist Bombay, nicht Bollywood!"

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