SZ-Serie: Wort für Wort:Erektionen im Transitiv

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Eine Leseabend im Münchner Literaturbüro

Von Karl Forster, München

Der Dichter lässt sich Zeit. Zieht das Taschentuch aus der Hose, faltet es auf, hält es sich an die Nase und schnäuzt sich mit Inbrunst und Lust am Lärm. Dann liest er ungerührt weiter, mit dieser leicht nasalen Stimme, wie man sie ähnlich oft von professionellen Sprechern bei Dokufilmen hört. Es geht in der Lesung zunächst um eine Lesung, und zwar in einem Literaturverein, zu der auch eine sehr schöne Frau gekommen ist und in der letzten Reihe auf einem der billigen Plastikstühle sitzt. Und um einen Dichter, der in diesem Literaturverein eine Geschichte liest und sich dabei Zeit lässt. In dieser Geschichte wiederum geht es um Frauen, die, wenn sie auf Männersuche sind, hohe Absätze bevorzugen, wenn sie Karriere machen wollen, eher nicht. Und um Männer, die tagsüber mächtig sind und nächtens sich demütigen lassen. Oft fallen die Worte Erektion und Ficken. Und hier, wo der Dichter die Geschichte vom Dichter liest, schaut man sich unwillkürlich um, ob denn nicht die in der Geschichte beschriebene schöne Frau da sei, in der hintersten Reihe auf einem der billigen Plastikstühle. Keine Frau dort hinten, gar keine.

Es ist ein Freitagabend im Literaturbüro an der Münchner Milchstraße, die ihren Namen deswegen trägt, weil hier die Bauern aus dem Osten der Stadt ihre Milch verkauften vor vielen Jahrzehnten. Und wie jeden Freitag seit 32 Jahren ist Lese-Abend. Zwei Literaten haben sich angesagt, der Dichter mit der schönen Frau und den vielen Erektionen, er heißt Paul Holzreiter, und ein junger Mann, Matthias Galler mit Namen, Lehrer für Englisch und Französisch am Gymnasium Unterhaching. Er wird ein Märchen lesen, ein selbstverfasstes, nachempfunden einer alten Geschichte aus Kurdistan. Beide werden an diesem Abend - nicht nur, aber auch - ihr Fett wegbekommen. Das ist so üblich im Literaturbüro, dem ältesten Dichtertreff der Stadt, man schreibt gerade die Lesung Nummer 1782. Während des Vortrags jagen Kugelschreiber über Notizblöcke. Man wappnet sich zur Diskussion. Zu viele Erektionen.

Das Haus Milchstraße 4 ist eher schmucklos im Vergleich zum oft herrschaftlichen Umfeld. Ein Nachkriegsbau wohl, aber mit einer großen Seltenheit behaftet: Er gehört einer Erbengemeinschaft, die sich erstens offenbar nicht streitet, und die zweitens zumindest so viel übrig hat für Literatur, dass ein eingetragener gemeinnütziger Verein sich diesem Genre widmen kann, ohne durch die Miete allzu sehr geschröpft zu werden. Und das seit 1984 unentwegt und ohne Pause jeden Freitag zwischen 19 Uhr c.t. und 22 Uhr.

Josef Rohrhofer, "Bebbo" genannt, von Beruf Abteilungsleiter bei der Caritas, ist, was man landläufig als "guten Geist" des Hauses oder auch "Betriebsnudel" bezeichnen könnte. Wortgewandt, sprechbereit in allen Lagen, den Dichterschal locker um die Schultern gelegt, erzählt er fröhlich von der Geschichte des Vereins, von den überschaubar gehaltenen Mitgliedbeiträgen, von der gerne angenommenen, aber nicht üppigen Unterstützung durch das Kulturreferat, von Werkstattpreisen, Lyrikpreisen, offenen Abenden jeden ersten Freitag im Monat. Oder von Nina, der alten Russin, die immer wieder auftaucht, und natürlich von Uwe Tellkamp, der einst hier las, lange bevor er in Klagenfurt den Bachmann-Preis bekommen hat. "Der aber hat's bei uns nicht geschafft", sagt Josef Rohrhofer, nicht ganz ohne Stolz.

Ja, man ist stolz hier auf den kleinen Laden mit der kleinen kargen Bühne, Tisch drauf, zwei Stühle, schwarze Leselampe. An den Wänden durchsichtige Galerieschnüre mit Haken dran, im Parkett dann die schon berühmten billigen Plastikstühle, über ein paar Stufen geht es hoch zum Rückraum, in dem weißer und roter Wein ausgeschenkt wird gegen ein kleines Salär.

Langsam füllt es sich. Man kennt sich, "Beppo" stellt die eindrucksvollsten vor, den Rechtsanwalt, die Kollegin Schriftstellerin aus Belgien. Man sei, so sagt er und so steht es auch im Selbstverständnisabsatz im Netz, hier der Kritik verpflichtet. Der konstruktiven Kritik selbstredend.

Und so mag man es dann auch sehen, wenn in der Pause zwischen seinen zwei Geschichten "der Paul" zur Brust genommen wird. Da ist zunächst freundlich davon die Rede, dass man die verschiedenen Erzählebenen nicht ganz verstanden habe. Oder diese Libido-Geschichte. Und weil jeder Verein auch sein Gscheithaferl hat, sagt das des Literaturbüros, Pauls Geschichte sei ein "postmoderner Dekonstruktionsporno". Was vermuten lässt, dass sowohl die Postmoderne, als auch der Dekonstruktivismus und erst recht der Porno hier nicht so ganz wohl gelitten sind. Paul nimmt einen Schluck Wasser.

Weil auch seine zweite, kürzere, kaum pornografische Geschichte nicht so gut ankommt ("Ich hab' dich sprachlich auch schon mal besser erlebt") und natürlich das Gscheithaferl herausfand, dass man das Verbum "hängen" transitiv anders beugt als intransitiv, und dass das so nun gar nicht gehe, begibt Paul sich nach getaner Arbeit nach links außen auf einen der billigen Plastikstühle nahe an der Wand. Und man weiß nicht recht, ob Mitleid angebracht wäre. Vielleicht auch nicht.

Aber es gehört eben auch zu solch einer Institution, dass sie für Überraschungen gut ist. Der zweite Gastleser ("der war doch schon mal da, oder?") hat ein gewaltiges Kinn, sehr wache Augen und eine noch näselndere Stimme als sein Vorgänger. Er ist, das spürt man schnell, gewohnt, vor Menschen zu sprechen, trägt eine gewisse, nicht unangenehme Selbstsicherheit vor sich her, spricht auch mit den Händen und erzählt eine lange Geschichte. Es ist ein Märchen aus einer Gegend, der schon Karl May einen Band gewidmet hat und in der heute unsere Freiheit verteidigt wird: Kurdistan. Schon der erste Satz entführt die Zuhörer an den Fuß des Hindukusch zu dem tragischen, nicht immer sympathischen Helden Siyabend: "Kahle Berge warfen ihre Schatten in tiefe Täler. . ."

Matthias Galler hat, zwischen den Kapiteln, die er liest, vielleicht den Fehler gemacht, nicht genau genug zu erklären, wofür Märchen in einem Land wie Kurdistan da sind: nicht nur zur generationenübergreifenden Vermittlung von Traditionen, sondern auch, um an endlosen Winterabenden Zeit und Kälte zu vergessen. Und dass deswegen Märchen wie dieses über den kraftstrotzenden, aber nicht unbedingt klugen Siyabend viele, viele Verästelungen und irgendwie kein richtiges Ende haben. Jedenfalls war das Auditorium nach anfänglicher Halbbegeisterung irritiert und ließ dies den Dichter durchaus wissen und spüren. Der geriet nun nicht, wie man es erwarten könnte, in Raserei, beschimpfte nicht das Publikum als Ignoranten und Dummköpfe, die seiner Worte unwürdig wären. Nein, er notierte Einwand um Einwand und sagte ergriffen "Danke".

Es hatte sich an diesem Abend für einen Freitag im Januar ein junger Mann mit langem rotem Haar als Literat angemeldet. Er saß in der zweiten Reihe auf einem der billigen Plastikstühle. Aber nach dem Märchen war er weg. Verschwunden. Kann sein, dass er noch einmal über die korrekte Beugung von transitiven und intransitiven Verben nachdenken wollte.

© SZ vom 07.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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