SZ-Serie Völkerwanderung (5):Das zuagroaste Kompliment <p></p>

Alles rieselt Richtung Süden: Bayern ist das Einwanderungsland für Restdeutschland.

HERMANN UNTERSTÖGER

Es begab sich im Jahr 1977, dass die Münchner Abendzeitung sich genötigt sah, für eine Überschrift zur Fraktur zu greifen, und der daraus gesetzte Titel lautete: "Hilfe, die Bayern sterben aus! Fensterln soll für Nachwuchs sorgen." Der Text darunter gab, nicht ohne heimisches sprachliches Kolorit ("Kruzitürken!"), der Vermutung Raum, dass in Bayerns Lederhosen nicht viel los sei, während sich der Landtagsabgeordnete Kurt Faltlhauser - heute Finanzminister dahier - zu den in dieser Sache hilfreichen bodenständigen Sitten äußerte und staatliche Zuschüsse für Leitern anregte. Eine Riesengaudi also, und der Artikel landete richtig in der Archivmappe "Bayern/Bevölkerung".

SZ-Serie Völkerwanderung (5): Das Nord-Süd-Gefälle, das patriotische Bayern für gottgegeben halten, kann man auch bei der binnendeutschen Wanderung gut erkennen. 
 Gärtner in Feldmoching beim Überqueren eines Feldes mit jungen Spinatpflanzen.

Das Nord-Süd-Gefälle, das patriotische Bayern für gottgegeben halten, kann man auch bei der binnendeutschen Wanderung gut erkennen. Gärtner in Feldmoching beim Überqueren eines Feldes mit jungen Spinatpflanzen.

(Foto: Foto: dpa)

Wie bei vielen Dingen, so unterscheidet Bayern sich auch beim Thema Migration von den anderen Bundesländern, ja man käme bei Hessen oder Niedersachsen wahrscheinlich gar nicht auf die Idee, eine Wanderungsgeschichte beziehungsweise eine Statistik der Migrationsgewinne und -verluste sonderlich attraktiv zu finden. Nicht, dass die übrigen Länder keine Wanderungsbewegungen zu vermelden hätten, o nein: Die Graphiken in der einschlägigen Literatur zeigen ein wahres Gewirr von grenzüberschreitenden Pfeilen, ein Hin und Her, das einen an Wilhelm Buschs Verszeile "Im Ameishaufen wimmelt es" denken lässt.

Hält man die Graphiken indessen etwas weiter weg, so klärt sich das Gewimmel und gibt altbekannte Migrationsmuster frei. Das Nord-Süd-Gefälle, das patriotische Bayern schon bei der Bildung, bei der wirtschaftlichen Effizienz und in noch ein paar Sparten für gegeben, um nicht zu sagen für gottgegeben halten, kann man auch bei der binnendeutschen Wanderung gut erkennen.

Zwar war es nach der Wende zu klar von Ost nach West gerichteten Strömungen gekommen, die den alten Ländern durch die Bank Migrationsgewinne beschert hatten (wobei der Terminus "Gewinne" in diesem Fall der Statistikersprache entliehen ist - der kleine Mann sah das leider oft etwas anders). Seit sich das halbwegs konsolidiert hat, geht die Binnenwanderung aber wieder ihre gewohnten Wege: Die Menschen rieseln, als wäre die Bundesrepublik ein kühles, außen beschlagenes Glas, vornehmlich nach unten, in den Süden, nach Bayern.

Für den so genannten weißblauen Freistaat sieht, rein zahlenmäßig jedenfalls, die Wanderungsbilanz ziemlich gut aus. Nehmen wir das Jahr 2000. Damals registrierte man für das ganze Bundesgebiet einen Wanderungsgewinn von 167115 Personen. Auf Bayern entfielen davon 73369 Personen, also etwa 44 Prozent, wohingegen der zweite potente Südstaat, der Nachbar Baden-Württemberg, nur auf 37638 Zuzügler kam. Es folgten die Länder Niedersachsen (30898) und Nordrhein-Westfalen (22657), und das setzte sich über Mittelfeldspieler wie Hamburg (12708) oder Rheinland-Pfalz (8046) fort bis zu den Verlierern Sachsen (minus 16893) und Sachsen-Anhalt (minus 21910). Man sollte sich an den 73369 Neubayern übrigens nicht gleich sinnlos besaufen. Sie sind das Ergebnis einer Subtraktionsrechnung, bei der von 1977791 Zuzüglern jene 1810676 Leutchen abgezogen wurden, die sich über die so attraktive weiß-blaue Grenze wieder davongemacht hatten.

Unter den Grundsätzen, zu denen sich die Bayerische Staatsregierung in regelmäßigen Abständen und mit leicht maulendem Unterton bekennt, ist stets der folgende zu finden: dass Bayern kein Einwanderungsland sei oder werden wolle, dass es aber zur Integration derer, die dennoch hierher kommen, gern bereit sei. Als historischer Beleg für eine überaus gelungene Eingliederungsleistung wird die Nachkriegszeit herangezogen, präziser gesagt die Sudetendeutschen. Sie können in diesem Kontext als Inbegriff für Flüchtlinge gelten, und aus ihnen wurde, zusammen mit all den übrigen Heimatvertriebenen, jener "vierte bayerische Stamm", der, hört man die Politiker reden, den Altbayern, Schwaben und Franken schon immer gefehlt zu haben scheint. Wer die fragliche Zeit miterlebt hat, erinnert sich möglicherweise an eine etwas andere Gefühlslage, an eine Stimmung, die zwischen Fremdeln und Feindseligkeit nur mühsam die Balance hielt, doch hat sich das in der Tat erledigt, wenn auch nicht ausschließlich auf Veranstaltung der CSU.

Da wir gerade bei den bayerischen Stämmen halten, sollten wir noch einen fünften definieren: die Zugereisten alias Zuagroastn. Doch was heißt hier definieren! Eigenart dieses Stammes ist es, dass er sich der Definition, der landsmannschaftlichen jedenfalls, entzieht. Allenfalls könnte man darüber spekulieren, ob er nicht mittlerweile der größte unter den bayerischen Stämmen ist, eine Annahme, die nicht zuletzt dadurch gestützt wird, dass auch der vierte Stamm aus Zuagroastn, nämlich aus Flüchtlingen, besteht und darum eigentlich dem fünften zugeschlagen gehört. Hiesige Blätter nutzen diese Lage oft zu Jammerartikeln darüber, dass die Bevölkerung zwar zunehme, dass aber die Bayern selbst, als Ethnie, ausstürben. Um noch einmal der Abendzeitung zu lauschen: "Auweh - immer mehr Zuagroaste!" Andererseits ist man verständlicherweise nicht wenig stolz auf diese Abstimmung mit den Füßen; Innenstaatssekretär Hermann Regensburger kommentierte den Migrationsgewinn von 2000 folgendermaßen: "Ich werte die vielen Zuzüge als Kompliment für Bayern."

Der Begriff Zuagroaste ist in einem solchen Maße der Heimat-, Tourismus- und Depperlfolklore anheim gefallen, dass man fast versucht ist, ihm wo nicht zu Ehre, so doch wenigstens zu Gerechtigkeit zu verhelfen. Der Zugereiste ist in jedem Fall eine würdigere Erscheinung als der Zuzügler, der ja schon klanglich fast nicht auszuhalten ist - hört sich an wie der Ausflügler, der Appetitzügler oder der nicht minder schädliche Maiszünsler. Zudem erhebt die bayerische Variante Zuagroasta Anspruch auf eine Doppelsinnigkeit, wie sie dem hochdeutschen Zugereisten versagt ist. Das Verbum roasn wird nämlich sowohl für reisen als auch für rennen verwendet, so dass man einen Neubürger je nach seinem Gebaren als angereisten Gast oder aber als zugelaufenen Eindringling charakterisieren kann.

Das Getue mit den Zuagroastn - Stichwort: "Saupreiß, japanischer!" - könnte als die lustige Kehrseite einer dumpfen bayerischen Fremdenfeindlichkeit ausgelegt werden. Dagegen steht die Vermutung, dass die Xenophobie der Bayern nicht stärker ist als die anderer Völker. Viele Bayern sind sich dessen bewusst, dass ihre Stammesbildung so glorios auch wieder nicht war, dass sie vielmehr aus einem Völkermischmasch hervorgegangen sind. Das Ergebnis betrachten sie selbst, und andere mit ihnen, als einigermaßen glückhaft, und insofern können sie gegen eine weitere Durchmischung und Auffrischung kaum etwas einzuwenden haben. Freilich wollen sie dabei nicht überrollt und gegängelt werden. Dazu halten sie zu viel von ihrer alten und in sich geschlossenen Kultur, der gegenüber, wie Johann Lachner einmal schrieb, "die helle, zivilisatorische Gewecktheit anderer, vielfach jüngerer deutscher Stammesschichtungen zwar viele Vorteile, aber keine Überlegenheit beanspruchen kann".

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