SZ-Serie: Live-Musik in Bayern, Folge 8:Nestwärme

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Seit 33 Jahren ist die Musikkneipe "Kuckucksnest" Bastion der Berchtesgadener Sub- und Gegenkultur. Und somit auch ein Spiegelbild dafür, wie sich diese vom Bluesrock zum Hardcore-Punk entwickelt hat

Von Martin Pfnür, Berchtesgaden

Die Spuren, Bilder und Symbole, in denen sich die Geschichte dieses kleinen subkulturellen Wunders in der Marktgemeinde Berchtesgaden besonders schön widerspiegelt, sie sind immer noch ziemlich zahlreich. Da ist etwa dieses Schild, das einem am Anfang der steil abfallenden Von-Hindenburg-Allee Richtung Bahnhof begegnet. "Musikkneipe Kuckucksnest" steht darauf, darunter ein fünfzackiger Stern, so rot wie eine Kirschtomate; oder dieser gewaltige Totempfahl, vor dem man ein paar Meter weiter unten steht; oder diese Porträts stolz dreinblickender Indianer, auf die man dann im Inneren der Kneipe stößt; oder die mit weit erhobenem Schwanz pinkelnde Kuh hinter der Bar, die mit ihrer Notdurft die perfekte Idylle eines Watzmann-Panoramafotos sabotiert; oder auch die zahlreichen Schuhabdrücke an der Decke, die auf die jüngere Vergangenheit des Lokals namens Kuckucksnest verweisen.

Es sind Spuren, Bilder und Symbole, die von einem imposanten Akt der Pionierarbeit erzählen. Denn wie soll man das auch anders bezeichnen, wenn einer an einem politisch so tiefschwarzen Ort, wie Berchtesgaden es ist, eine Musikkneipe aufmacht - und sich als Logo gleich mal diesen Stern in Kirschtomatenrot über die Tür hängt.

Passiert ist das im Oktober 1982, als der leider viel zu früh verstorbene Bodo Palm erstmals ins Kuckucksnest lud. Er wollte einen Ort "für alle 'Randständigen' in Berchtesgaden" schaffen, wie sein langjähriger Freund Ludwig Renoth erzählt. Für all die Außenseiter also, die aus dem ortsüblichen Raster fielen, die kein Interesse an Blasmusik, Schuhplatteln und sonntäglichem Kirchgang mit anschließendem Frühschoppen entwickelten, und die die Lederhosen eines Jim Morrison deutlich ansprechender fanden als die Berchtesgadener Version.

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(Foto: fox snapshot fotography)

Bilder aus 33 Jahren Rockkneipengeschichte: Das Kuckucksnest in Berchtesgaden ist ein Hort für Musik, wie sie im Berchtesgadener Landkreis eher selten zu hören ist.

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(Foto: Doc Snyder Photo)

Nach der Bluesrock-Ära dominiert dort heute die wilde Punkrockszene.

In den Anfangsjahren fanden hier Künstler und Musiker, vor Ort stationierte US-Soldaten und langhaarige Motorradrocker ein Zuhause.

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(Foto: fox snapshot fotography)

Alle suchten und fanden sie im Kuckucksnest eine Form von Freiheit, die ihnen hier sonst meist verwehrt blieb.

Schwarze Schafe und einsame Wölfe, Künstler und Musiker, vor Ort stationierte US-Soldaten und langhaarige Motorradrocker, kurzum: Alle, die irgendwie etwas anders drauf waren, fanden damals mit dem Kuckucksnest ein Zuhause und eine Form von Freiheit, die ihnen hier sonst meist verwehrt blieb. Denn Freiheit, das war Bodos Palms wichtigstes Credo. Inspiriert von der Geschichte und Lebensweise der Indianer, von ihrer einstigen Unabhängigkeit, ihres Solidaritätsgedankens und ihrer später folgenden Außenseiterrolle als Reservatsbewohner, kleidete er seine Kneipe mit allerlei Federschmuck und Waffen aus, ließ den Totempfahl vor der Tür von einem Schamanen beseelen und verband den indianischen Spirit mit jenem des Rock à la Led Zeppelin oder Black Sabbath als bevorzugtem musikalischen Genre. Sein (Kunden-)Stamm war jedenfalls begeistert - und das nicht nur, wenn Palm als Sänger des Kollektivs Black Raven im Rahmen von Jams und Konzerten satten Bluesrock kredenzte.

"Früher sah das Kuckucksnest tatsächlich wie eine Art Apachenkneipe aus", sagt Maximilian Maier, 24, der die Kneipe 2014 mit Palms Stiefsohn Jakob, 25, in dritter Generation übernahm. "Im Lauf der Jahre hat sich das dann aber etwas reduziert." Auch sonst hat sich im Kuckucksnest so einiges geändert; war es lange Zeit archetypischer Rock, der den Sound im Nest prägte, so verschob sich mit der Berchtesgadener Skaterszene, die Mitte der Neunziger gewaltig zu wachsen begann, auch die musikalische Ausrichtung. Denn der Ort, wo die Skater abends ihre Halbe tranken, wo sie ihren Punkrock auflegen durften, wo sie mit ihren Bands für eine Gage von ein paar Bier pro Bandmitglied auftreten durften - der war natürlich hier.

Während die Skater- und Bandszene in Berchtesgaden heute merklich geschrumpft ist, hat sich das gerade mal 150 Personen fassende Kuckucksnest längst zu einem Geheimtipp für Punkrock- und Hardcore-Bands nicht nur der Alten Welt entwickelt. Größen wie die US-Bands Walls Of Jericho oder Ramallah waren hier etwa schon zu Gast. "Wir haben in dieser Szene einfach einen guten Ruf", sagt Jakob Palm. "Die Kneipe ist ja sehr klein und von einer familiären Atmosphäre geprägt, entsprechend genießen die Bands den unmittelbaren Kontakt zu uns und zum Publikum."

Wie recht er damit hat, ließ sich zuletzt etwa beim Konzert der niederländischen Hardcore-Band No Turning Back beobachten. Nach einer kurzen Phase der Schüchternheit im Publikum wurde einem hier recht schnell klar, woher all die Fußspuren an der Decke stammen. Mit einem Mal begann die wilde tätowierte Horde vor der Bühne nämlich, wie von der Tarantel gestochen ihre Glieder in einer Art Rumpelstilzchentanz zu schütteln, um dann in eine Form von Crowdsurfing überzugehen, bei der man in rasender Geschwindigkeit mit den Füßen an der niedrigen Decke entlangtrippelt - quasi eine Tradition hier, die auch ein wenig an einen überlieferten Spruch Bodo Palms zum Kuckucksnest denken lässt: "Jeder hat so seinen Vogel - und der muss eben auch mal irgendwohin fliegen."

Kuckucksnest Berchtesgaden, Von-Hindenburg-Allee 1, Programm unter: www.kuckucksnest.net

© SZ vom 10.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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