SZ-Serie: Die grüne Frage:Ein neuer Kapitalismus

Der Überfluss führt uns in die Irre: Die Wirtschaft kann nicht ständig weiter wachsen und muss es doch. Je weniger wir für eine gemeinsame Sache tun, desto stärker wird die gesellschaftliche Logik des privaten Reichtums. Ein Plädoyer für eine bessere Lösung.

Tim Jackson

Unsere Gesellschaften stecken in einer Zwickmühle. Sie können dem Wachstum abschwören und damit einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch riskieren. Oder sie können weiter hemmungslos nach Wachstum streben und damit die Ökosysteme gefährden, von denen langfristig unser Überleben abhängt.

VW-Hauptversammlung

Ein Porsche steht am Dienstag in Hamburg im Rahmen der Hauptversammlung des Autobauers Volkswagen in der Auto-Ausstellung auf einem Dreh-Podest. Bei Europas größtem Autobauer Volkswagen steht ein Umbau des Aufsichtsrates an - und in der gesamten Wirtschaft ein Umdenken. Wenn man die Gefahren unseres langfristigen Überlebens denn ernst nimmt.

(Foto: dpa)

Vom normalen Politikbetrieb wird dies meist überhaupt nicht wahrgenommen. Wenn die Realität dann doch ins allgemeine Bewusstsein sickert, ist der beste Vorschlag der, die Wirtschaft weiter exponentiell wachsen zu lassen, das Wachstum aber irgendwie von seinen materiellen Folgen zu "entkoppeln".

Selten gesteht man sich die Größe dieser Aufgabe ein. Wir leben in einer Welt mit neun Milliarden Menschen, die alle einen westlichen Lebensstil anstreben. Die Kohlenstoffintensität der Wirtschaft müsste sich bis zum Jahr 2050 also dramatisch verringern - für jeden einzelnen erwirtschafteten Dollar sollte sie mindestens einhundertdreißigmal niedriger sein als heute.

Am Ende des Jahrhunderts müsste die Wirtschaft sogar Kohlenstoff aus der Atmosphäre entnehmen. Dass keiner weiß, wie eine solche Volkswirtschaft aussehen könnte, scheint gleichgültig. Durch "Entkopplung" sind solche Größenordnungen auf jeden Fall nicht zu erreichen - zumal die Anreize für fast alle Institutionen in die entgegengesetzte Richtung weisen.

Gestehen wir uns dagegen ein, in was für einer Zwickmühle wir stecken, verdunkelt dies die Zukunft derart, dass wir lieber an ein Wunder glauben: Die Technologie wird uns retten. Der Kapitalismus hat ein Händchen für so was. Lasst uns einfach weitermachen wie bisher und auf das Beste hoffen.

Die Selbsttäuschung stößt langsam an ihre Grenzen. Allzu blauäugige Annahmen wie die, der Kapitalismus sei effizient genug, um das Klima zu stabilisieren und die Knappheit der Ressourcen zu bewältigen, stehen vor dem Offenbarungseid. Was wir jetzt brauchen, ist eine klare Vision, eine mutige Politik und eine strapazierfähige Strategie, um es mit dem Wachstumsdilemma aufzunehmen.

Zunächst gilt es zu begreifen, warum wir in dieser gefährlichen Verweigerungshaltung verharren. Das Streben nach Gewinn führt zur beständigen Suche nach neueren, besseren, billigeren Produkten und Dienstleistungen. Gleichzeitig hält uns die unaufhörliche Suche nach dem Neuem und nach gesellschaftlichem Ansehen im stahlharten Gehäuse des Konsumismus gefangen. Der Überfluss selbst führt uns in die Irre.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wo der Wandel ansetzen muss.

Wohlstand für alle

Überfluss ist auf die unaufhörliche Produktion und Reproduktion neuer Dinge angewiesen. Sind wir ständig mit Neuem konfrontiert, löst das Angst aus und schwächt unsere Fähigkeit, langfristige gesellschaftliche Ziele anzustreben. So untergräbt der Überfluss unser eigenes Wohl und das unserer Mitmenschen. Irgendwo auf dem Weg verlieren wir aus den Augen, wonach wir eigentlich suchen - nach dem Wohlstand für alle.

Nichts von dem ist unausweichlich. Die ökologischen Grenzen können wir genauso wenig ändern wie die menschliche Natur. Aber wir können die Gesellschaft immer von neuem erschaffen, und das tun wir auch. Die Normen dieser Welt sind unsere Normen. Ihre Vorstellungen sind unsere Vorstellungen. Diese Normen und Vorstellungen bilden Strukturen und Institutionen. Und genau hier muss der Wandel ansetzen.

Jenseits von Nahrung und Obdach besteht Wohlstand in der Fähigkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, Vorstellungen und Ziele mit anderen zu teilen und gemeinsam zu träumen. Wir haben uns daran gewöhnt, dieses Ziel auf materiellem Wege anzustreben. Uns von dieser Gewohnheit zu befreien ist die Grundlage für den Wandel.

Lässt man dem Markt freien Lauf, kann das nicht gelingen. Auch mahnende Reden werden da wenig nutzen. Wird man dagegen als Einzelner oder in der Gemeinschaft aktiv, eröffnen sich entscheidende Möglichkeiten zu einer Veränderung. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Versuche einer Gruppe, eine andere zum Verzicht auf materiellen Reichtum zu bewegen, moralisch fragwürdig sind. Das ist, als ob man von Menschen verlangte, bestimmte soziale und psychologische Freiheiten aufzugeben.

Der Erfolg hängt entscheidend vom Aufbau glaubwürdiger Alternativen ab. Es geht darum, die Menschen in die Lage zu versetzen, tatsächlich weniger materialistisch zu leben. Insbesondere gilt es, den Begriff der öffentlichen Güter neu zu beleben. Es müssen ein neuer öffentlicher Raum und neue öffentliche Einrichtungen geschaffen werden. Wir müssen wieder Geld und Zeit in eine Infrastruktur stecken, die wir teilen.

Je weniger wir für eine gemeinsame Sache tun, desto stärker wird die gesellschaftliche Logik des privaten Reichtums. Der Verlust der gemeinsamen Sache folgt unvermeidlich aus Wirtschaftsformen, die sich von der Privatisierung unseres Lebens ernähren. Für eine neue Form des Wohlstands brauchen wir eine neue Form der Wirtschaft.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, worauf es ankommt.

Belastbarkeit, Arbeit und ihre Grenzen

Worauf kommt es an? Zum Beispiel auf Belastbarkeit. Volkswirtschaften, die bei Störungen zusammenbrechen, gefährden unmittelbar das Gedeihen. Wir wissen auch, dass es auf Gleichheit ankommt. Ungleiche Gesellschaften treiben den unproduktiven Statuswettbewerb an und untergraben das Wohlbefinden nicht nur direkt, sondern auch indirekt, indem sie das bürgerschaftliche Gemeinschaftsgefühl sabotieren.

Auch Arbeit ist für das neue Wirtschaftsmodell aus verschiedenen Gründen wichtig: Bezahlte Arbeit trägt ganz offensichtlich zum Lebensunterhalt der Menschen bei. Davon abgesehen nehmen wir dadurch, dass wir arbeiten, am gesellschaftlichen Leben teil. Durch Arbeit schaffen wir die gesellschaftliche Welt immer wieder neu und finden darin einen glaubwürdigen Platz.

Wir wissen zudem, dass sich die Wirtschaft innerhalb bestimmter Grenzen bewegen muss. Diese Grenzen werden zum Teil durch die Ökologie des Planeten bestimmt, zum Teil durch die Größe der Weltbevölkerung. Beide Faktoren zusammen bestimmen, wie viele Ressourcen und wie viel Raum uns zur Verfügung stehen.

Diese Grenzen müssen für die nachhaltige Organisation einer Volkswirtschaft beachtet werden. Die Entwicklung ökologischer Dienstleistungen, das Umschalten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf "grün", die Suche nach ökologisch bedingten Grenzen der Produktion - all das ist für die Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftsmodells höchstwahrscheinlich unabdingbar.

Solche Tätigkeiten zu unterstützen und auszuweiten heißt natürlich nicht, die Wirtschaft allein darauf zu beschränken. Viele überkommene Wirtschaftssektoren werden weiterhin eine Rolle spielen. Aber die Ressourcengewinnung wird in dem Maße an Bedeutung verlieren, in dem weniger Material verbraucht und mehr wiederverwertet wird. Dabei werden Industrie, Bauwesen, Nahrung und Landwirtschaft sowie eher konventionelle Dienstleistungen wie Einzelhandel, Kommunikation und Finanzdienste jedoch nach wie vor von Bedeutung sein.

Entscheidend ist aber, dass diese Sektoren wesentlich anders aussehen werden als heute. Die Industrie wird verstärkt darauf zu achten haben, dass Produkte haltbar sind und sich einfach reparieren lassen. Das Bauwesen muss sich darauf konzentrieren, Gebäude zu sanieren und neue nachhaltige, einfach zu reparierende Infrastrukturen aufzubauen. Die Landwirtschaft wird verstärkt auf den Schutz der Böden und das Wohl des Viehs Rücksicht nehmen. Finanzdienstleister werden sich weniger auf eine Expansion der Geldmenge als auf vernünftige, langfristige und stabile Investitionen stützen.

Das neue Wirtschaftsmodell ist weiterhin dringend auf Investitionen angewiesen, doch ihr Charakter wird sich ändern. Investitionen werden sich von ihrer herkömmlichen Rolle emanzipieren. Sie sind dann nicht mehr Anreiz für ein weiteres Wachstum der Produktivität, sondern Anreiz für ökologische Transformation: für erhöhte Energie- und Ressourceneffizienz, für erneuerbare und kohlenstoffarme Technologien und Infrastrukturen, für öffentliche Güter, für Klimaanpassung und ökologische Aufwertung.

Lesen Sie weiter auf Seite 4, wo das Wachstum bleibt.

Verteilung von Überschüssen

Wie steht das neue Wirtschaftsmodell zu wirtschaftlichem Wachstum? Es ist klar, dass drei seiner Merkmale das Wachstum tendenziell verlangsamen. Das erste sind die ökologischen Grenzen. Natürlich kommt es darauf an, wie streng diese Grenzen gezogen werden. Nimmt man diese Bedingung aber ernst, dann könnte das erhebliche Auswirkungen auf das Wachstum haben.

Die zweite Kraft, die das Wachstum im neuen Wirtschaftsmodell nach unten drückt, folgt aus dem Übergang zu neuen Formen der Dienstleistung. Die Arbeitsintensität dieses Sektors legt nahe, dass sich frühere Wachstumsraten nicht halten lassen werden. Das Wachstumspotenzial der Wirtschaft wird dadurch erheblich beschnitten.

Dazu müssten, drittens, andere Produktionsfaktoren schrumpfen. Arbeit ist darunter der wichtigste. Eine Verringerung der Gesamtarbeitszeit reduziert die Wirtschaftsleistung. Dies würde auch das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben verbessern. Soll dies aber nicht zu Arbeitslosigkeit führen (was einfach ungerecht wäre), würde das bedeuten, dass die verbleibende Arbeit durch Arbeitszeit- und Beschäftigungsregeln verteilt werden muss.

Grundsätzlich könnte es also sein, dass das neue Wirtschaftsmodell "weniger kapitalistisch" sein wird. Neue ökologische Investitionen werden voraussichtlich das Gleichgewicht zwischen privaten und öffentlichen Investitionen verändern. Langfristige, weniger produktive Investitionen sind für die Nachhaltigkeit unabdingbar, für das private Kapital aber weniger attraktiv. Darum wird der Staat bei der Finanzierung eine entscheidende Rolle spielen.

Will man die Staatsschulden nicht erhöhen, können solche Investitionen nur auf zwei Wegen finanziert werden: durch höhere Steuern oder indem die öffentliche Hand Eigentum an produktivem Vermögen übernimmt.

Interessanterweise wurde während der Finanzkrise darüber diskutiert, dass der Gesichtspunkt Gerechtigkeit eigentlich für einen höheren öffentlichen Anteil an Eigentum spräche. Warum sollte der Steuerzahler, wenn Garantien für den Finanzsektor übernommen werden, nur die Risiken tragen und keinen Gewinn erzielen?

Das gleiche Prinzip gilt bei staatlichen Investitionen in ökologische Vermögenswerte. Nicht alle sind im konventionellen Sinne produktiv, manche aber schon. Forstwirtschaft, erneuerbare Technologien, lokale Infrastruktur, natürliche Ressourcen - hier lässt sich Einkommen erzielen. Allgemeiner gesprochen, wird die gesamte Wirtschaft vom Wertschöpfungspotenzial ökologischer Dienstleistungen getragen. Öffentliche Investitionen in diese Aktivposten sollten aus prinzipiellen Gründen von der öffentlichen Hand als Einnahmequelle genutzt werden.

Die Anforderungen des neuen Wirtschaftsmodells machen es nötig, Produktivität, Wirtschaftlichkeit, Eigentum an Vermögen sowie die Kontrolle über die Verteilung von Überschüssen neu zu denken und zu ordnen.

Kann man das immer noch Kapitalismus nennen? Spielt das überhaupt eine Rolle? All denen, für die es eine Rolle spielt, könnten wir in Anlehnung an Mr. Spock in Raumschiff Enterprise sagen: "Es ist Kapitalismus, Jim. Aber nicht so, wie wir ihn kennen."

Der britische Wirtschaftsexperte Tim Jackson war Leiter der Wirtschaftlichen Führungsgruppe der Kommission für Nachhaltige Entwicklung, einem unabhängigen Beirat der Britischen Regierung. Sein Buch "Wohlstand ohne Wachstum", herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Oekom-Verlag, ist vor kurzem in Deutschland erschienen.

Übersetzung: Eva Leipprand

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