Stromae:Weltempfänger unserer Zeit

Stromae: Paul van Haver spricht von Stromae in der dritten Person. "Ich kann mich ihm anschließen oder mich raushalten. Ich bin nicht Stromae, jedenfalls bin ich nicht nur Stromae."

Paul van Haver spricht von Stromae in der dritten Person. "Ich kann mich ihm anschließen oder mich raushalten. Ich bin nicht Stromae, jedenfalls bin ich nicht nur Stromae."

(Foto: Paul Bergen/AFP)

Der Sänger Paul Van Haver hat die Kunstfigur Stromae erschaffen und plötzlich ging alles ganz schnell. Inzwischen ist er weit über Belgiens Grenzen hinaus berühmt. Viele halten ihn schon für den nächsten Jacques Brel. Eine Begegnung.

Von Tim Neshitov

Stromae, die Bühnenfigur des belgischen Künstlers Paul Van Haver, ist eine androgyne Marionette mit stilvoll choreografiertem Tanz und einer Stimme, die ins Herz geht. Doch sie macht ihrem Schöpfer Sorgen. "Stromae beansprucht achtzig Prozent meiner Lebenszeit", sagt Van Haver. "Das geht so nicht weiter, das Tempo ist unmenschlich. Wir machen noch das Promoding für dieses Album, aber dann stelle ich um."

Stromae - das Kunstwort ist eine Umwandlung von "Maestro" und wird "Stro-Mei" ausgesprochen - tourte im Sommer durch die USA. Die New York Times nannte ihn einen "Musiker für seine Zeit", einen, der "das Graue kanalisiert, das derzeit über Europa hängt".

Paul Van Haver, Sohn einer flämischen Mutter und eines ruandischen Vaters, singt Französisch. Sein Vater verließ die Familie früh, ging nach Ruanda und starb dort 1994 im Genozid. Paul war da neun, bald wird er 30. Sein Markenzeichen sind seriöse Texte zu tanzbarer, elektronischer Musik. "Racine Carée" (Quadratwurzel) ist sein zweites Album und das erste, das weltweit gezündet hat, wenn man von der Single "Alors on danse" absieht.

Stromae hat die Hymne der belgischen Fußball-Nationalelf geschrieben und gesungen

Wenn Paul Van Haver nicht mit seiner Freundin durch Brüssel spazieren kann, mit seiner Mutter, die ihn und vier weitere Geschwister alleine erzog, nicht mehr moules frites an der Ecke essen kann, dann ist auch sein Stromae gefährdet, eine Figur, die vom Anspruch lebt, wahrhaftig zu sein. "Ich spüre, dass ich etwas falsch gemacht habe", sagt Van Haver, inzwischen Autor der Welthits "Formidable" und "Papaoutaie". "Ich lerne gerade, mit meiner Zeit und meinem Ruhm anders umzugehen." Seine Interviews absolviert er in einem sterilen Büroraum am Rande Brüssels. Er hat grüngraue Augen und hält seine hageren Hände unter dem Tisch zusammengefaltet, zwischen den Knien. "Mir fällt es schwer, Entscheidungen zu treffen. Ich zweifle viel. Ich bin ein Korinthenkacker." In Belgien lautet das Wort für Korinthenkacker: Mückenficker.

Paul Van Havers Kunstfigur, ist auf der Bühne perfekt gekleidet, in einer Mischung aus Gentleman-Kluft, afrikanischer Kindermode und Hip-Hop-Coolness. Stromae bewegt sich mit einer Sicherheit, die an Michael Jackson denken lässt, aber mit ganz eigenem Stil: froschige Ausfallschritte, rechteckig rudernde Arme, hüpfende Soli. Seine Stimme kann viel, mal klingt sie nach Mousse au Chocolat, mal nach Kiesstrand. Er hat übrigens auch die Fußballhymne der belgischen Nationalelf geschrieben und gesungen.

Zum internationalen Star wurde er, als Kanye West "Alors on danse" remixte. Es handelt von einer Generation, die sich auf eine psychosomatische Art Sorgen macht: Studium, Arbeit, Geld, Kredite, im Grunde bringt es nichts, ein Studium anzufangen, man landet sowieso in Schulden, "in der Scheiße", wie Stromae singt. Er teilt sich hier mit knapper, präziser Poetik mit. "Qui dit amour dit les gosses, dit toujours et dit divorce." Ein Leben in elf Worten, auf deutsch etwa: Wer Liebe sagt, spricht von Bengeln, von "für immer" und von Scheidung. Um zu vergessen, geht man weg, man tanzt: Alors on danse. Das war 2010, Finanzkrise, düsterstes Europa.

Kanye West behielt den hypnotisierenden Beat, dichtete aber etwas Amerikanisches darauf: "Wake up in Paris with a Russian model, throw your hands in the sky". Stromae sang zwar nur den französischen Alors-on-danse-Refrain, aber der amerikanische Superrapper klang neben ihm wie ein Highschool-Conférencier. Stromae kommt aus dem Hip-Hop, heute kann seine Stimme selbst im Hip-Hop Verwüstungen hinterlassen.

Ein zweiter Jacques Brel?

Stromae sei ein "kollektives Projekt", sagt Paul Van Haver. Er hat eine Choreografin, mehrere Berater und einen Designer, der seine Kleidung entwirft. Van Haver vermarktet sie unter der Marke Mosaert. Er spricht von Stromae in der dritten Person. "Ich kann mich ihm anschließen, oder mich raushalten. Ich bin nicht Stromae, jedenfalls bin ich nicht nur Stromae."

In Belgien vergleichen sie ihn mit Jacques Brel, dem Nationalbarden, der das Land einst zusammenhielt wie sonst nur der Fußball. Paul Van Haver kann mit Worten wie Nation, Integration und Projektionsfläche wenig anfangen. "Fußball hält Menschen zusammen, ja, aber Stromae hat keine solche Funktion." Bei einem Konzert in New York nannte Stromae Belgien "ein wirklich kleines Land in der Nähe von Frankreich, so ein irrwitziges Ländchen". Das nimmt ihm zu Hause keiner übel.

Der Vergleich mit Jacques Brel beschäftigt ihn. "Ich habe Interviews mit ihm gesehen, der ist stark. Immer schlagfertig. Es ist dieser Widerspruch bei ihm: Auf der Bühne verletzlich, im Gespräch hart." Van Haver sagt, er würde den 1978 verstorbenen Brel gerne etwas fragen: "Glaubst auch du, dass wir uns ähnlich sind? Ich frage mich das, und ich weiß es nicht."

Eines der populärsten Lieder von Jacques Brel ist "Ne me quitte pas", "Verlasse mich nicht". Brel singt, wie kein Mensch sonst singt, er singt mit entblößter Seele, sein Gesicht ist ein Buch. "Lass mich der Schatten deines Schatten werden, der Schatten deiner Hand, der Schatten deines Hundes, aber verlasse mich nicht."

Stromaes "Formidable" hat bald hundert Millionen Klicks auf Youtube. Es erzählt die Geschichte eines bereits Verlassenen. Eigentlich banal: Das lyrische Ich kann keine Kinder zeugen, seine Frau verlässt ihn, er betrinkt sich, stromert durch die Straßen und labert Passanten an. "Im Leben, gibt's weder gut noch böse. Wenn Mama dich nervt, ist's weil sie Angst hat, Oma zu sein. Wenn Papa Mama betrügt, ist's weil Mama gealtert ist."

Paul Van Haver wurde vor Jahren auf der Straße von einem Betrunkenen angepöbelt. "Er nannte mich Affe, fragte, ob ich mir selbst denn gut gefalle. Er war verärgert über die Welt." In "Formidable" ist Stromae nun derjenige, der über die Welt verärgert ist. Er fragt, wieso die Leute ihn wie einen Affen anschauen. "Gebt mir ein Affen-Baby, es wird wundervoll."

Das Video dazu drehte Stromae an einem verregneten Morgen im vergangenen Mai. Er torkelte an einer Brüsseler Trambahn-Haltestelle herum, als wäre er betrunken, quatschte Mädchen an und wurde von mehreren versteckten Kameras gefilmt. Passanten filmten ihrerseits mit Handys, Polizisten boten an, ihn nach Hause zu fahren. Im Internet tauchten Videos auf. Stromae wartete eine Woche, während Gerüchte hochkochten, dann warf er sein eigenes, wundervoll produziertes Video ins Netz. Am Ende grinst er da ganz nüchtern in die Kamera.

"Aber ich will tanzen"

Frankreich, der Nachbar, liegt dem Belgier längst zu Füßen. Le Monde nannte Stromae eine "Antenne", die alle Signale unserer Zeit einfängt: "Krise, Aids, Umwelt, Frauenfeindlichkeit, Twitter, falscher Reichtum". Als er im Oktober durch Frankreich tourte, verstauchte er sich vor dem Konzert in Toulouse den Fuß. Gekommen waren Familien mit Kindern, Rentner, Rollstuhlfahrer, elftausend Menschen. Nachdem Stromae sagte, er könne leider nicht tanzen, oszillierte die Halle zwischen Enttäuschung und Sorge. Einzelne Buhrufe wurden erstickt. Gute Besserung!

Stromae tanzte dann doch, sogar sehr gut, sang fast alle seine Songs, es passen ja nicht so viele auf zwei Alben, zog sich ein Frauenjackett über für "Tous les memes", ein Lied, das er aus der Sicht einer Frau singt: "Schau ein letztes Mal meinen Hintern an, er ist neben meinen Koffern". Zum Schluss sang er auch a capella mit seinen vier Musikern, alle steckten in schwarzen kurzen Hosen, dazu weiße Hemden mit Fliege und Hut. Es herrschte eine Stimmung wie Weihnachten - ohne die schwierigen Verwandten.

Bei Stromae herrscht immer gute Laune, ohne Hysterie, eine Begeisterung ohne Rausch, was wohl daher kommt, dass er vom Schlamm des Leben singt, aber so, dass es zum Ohrwurm wird.

Bei einem Lied von Stromae beschleicht einen dann doch das Gefühl, es sei Paul Van Haver, der da singt, der Mensch, nicht die Kunstfigur. Es heißt "Ave Cesaria" und ist eine Hommage an die kapverdische Sängerin Cesaria Evora, die vor drei Jahren starb. Mit ihr geht es Paul Van Haver so, wie es seinen eigenen Fans ergeht, die kein Französisch sprechen: Er versteht nicht, wovon sie singt. "Kein Wort", sagt er. "Aber ich will dazu tanzen."

Hätte ich zur Zeit Mozarts gelebt hätte ich klassisch komponiert, aber mit afrikanischen Beats

Cesaria Evora sang auf Kreol, trat barfuß auf, trank Rum und legte ihre Zigarettenschachtel auf ein Tischchen auf der Bühne. Sie wuchs in einem Kinderheim auf, unterschrieb erst mit 47 den ersten Plattenvertrag. Ihr Welthit "Sodade" handelt von etwas, wovon die Welt keine Ahnung hat: von der Zwangsarbeit der Bevölkerung von Kap Verde auf der Insel São Tomé. Dies sind ehemalige portugiesische Kolonien im Atlantik, Hunderte Kilometer vor der Küste Westafrikas. "Evora, Evora", singt Paul Van Haver. "Ich werde dich wiederfinden, das ist sicher."

Er schreibt seine Musik selten im Studio in Brüssel, sondern in Hotels und Bars. Wie die elektronischen Melodien entstehen, zeigt er in kurzen, unterhaltsamen Youtube-Videos, die er "Lektionen" nennt. Es sieht alles sehr einfach aus, Spur eins, Spur zwei. "Ich trete da nicht wie ein Komponist auf. Ich bin ein Clown." Er sagt, er habe keine Ahnung von klassischer Musik, sei nie in der Oper gewesen, und langweile sich, wenn er in einem Musikstück keinen Rhythmus erkennen kann. "Wenn ich zur Zeit Mozarts gelebt hätte, als es keine Computer gab, hätte ich wohl klassische Sachen komponiert, aber mit afrikanischen Beats drin."

In Ruanda war Paul Van Haver ein Mal, "mit fünf oder sechs", noch vor dem Genozid. Aber nun sei es Zeit, dort hinzufahren. Das Lied "Papaoutai", in dem es um fehlende Väter geht, wird in Ruanda, zumindest in dieser Generation, anders klingen, als etwa in Finnland. Aber geschrieben hat er es nicht über seinen ermordeten Vater, sondern über die europäische Realität, in der er lebt. So steht es auch im Lied: "Jeder weiß, wie man Babys macht, aber keiner weiß, wie man Papas macht."

Stromae kommt am 4. Dezember nach München und am 7. Dezember nach Berlin.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: