Streit um der Deutschen liebstes Wort:Ihr habselt sie doch nicht alle!

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Füllsel, Geschreibsel, Trübsal: Kaum haben die Deutschen mit der Habseligkeit ihr "schönstes Wort" gekürt, meldet sich die Wissenschaft. Und vermerkt: Dieses Wort ist gar nicht, wofür ihr es haltet. Und schön, so die Linguistik, ist es sowieso nur in einem "populären Paralleluniversum". Ah ja.

LOTHAR MÜLLER

Als der Deutsche Sprachrat und das Goethe-Institut im Mai 2004 den Wettbewerb "Das schönste deutsche Wort" ins Leben riefen, war von Beginn an klar, dass der Sieger eine eher luftige Krone tragen würde. Nie würde er im Ernst auf seinem Thron sitzen, immer würde man seiner Krone ansehen, dass er sie beim Spiel gewonnen hatte. Beim Spiel mit der Sprache. Zu den Spielregeln gehörte, dass jeder Vorschlag mit einer Begründung, mit einer Liebeserklärung zu versehen war. Am Ende waren es 22 000, darunter die Plaudertasche und das Hintergrundrauschen, der Staubsauger und das Schlaraffenland, die Lautmalerei und das Schweigen, das Streichholzschächtelchen und die Kinkerlitzchen, der Kulturbeutel und der Eierschalensollbruchstellenverursacher.

Für Frau Kalkas Übersehen des Zwinkerns, mit dem das Wort "Habseligkeiten" sie anblickte, gibt es einen wissenschaftlichen Begriff: "Volksetymologie". (Foto: N/A)

Loriot hatte die "Auslegware" eingereicht, zum Sieger aber wurden vor zwei Wochen, am 24. Oktober 2004, die "Habseligkeiten" gekürt. Frau Doris Kalka hatte das Wort mit einer Begründung eingereicht, die ganz von der Spannung zwischen dem Prosaischen und dem Metaphysischen lebte und in der folgende Sätze standen: "Lexikalisch gesehen verbindet das Wort zwei Bereiche unseres Lebens, die entgegengesetzter nicht sein könnten: das höchst weltliche Haben, d.h. den irdischen Besitz, und das höchste und im irdischen Leben unerreichbare Ziel des menschlichen Glücksstrebens: die Seligkeit."

Wie Frau Kalka das Wort angeschaut hatte, so hatte es zurückgeschaut. Das leise Zwinkern hatte sie übersehen. Und die Linguisten, die in der Jury saßen, hatten eine Liebeserklärung zu prämieren und nicht eine gelehrte Abhandlung, also drückten sie beide Augen zu. Aber draußen im Lande haben seit dem 24. Oktober viele Linguisten die Augen weit aufgerissen, als sie Frau Kalkas Liebeserklärung lasen, darunter Dr. Dominik Brückner und Prof. Dr. Ulrich Knoop von der Universität Freiburg.

Sie haben Frau Kalka jetzt korrigiert: "Lexikalisch gesehen, das heißt eben auch etymologisch, also wortgeschichtlich gesehen, sind ,Habseligkeiten' keine ,Hab-seligkeiten', sondern ,Habsel-igkeiten'. Der erste Bestandteil des Wortes ,Habsel', bezeichnet die Gesamtheit dessen, was jemand hat, und gehört damit in eine Reihe mit Wörtern wie ,Füllsel', ,Geschreibsel', ,Wechsel', aber auch ,Trübsal', ,Mühsal' oder ,Schicksal'. Zu diesem ,Habsel' gehört dann ein Adjektiv ,habselig', das wiederum die Grundlage für das schönste deutsche Wort bildete. Nicht einmal der gegenwartssprachlich ausgerichtete zehnbändige Duden schlägt die Brücke zur ,Seligkeit'."

Für Frau Kalkas Übersehen des Zwinkerns, mit dem das Wort "Habseligkeiten" sie anblickte, gibt es einen wissenschaftlichen Begriff: "Volksetymologie". Es bezeichnet den Reim, den sich ein Laie auf die Geschichte und Herkunft des Wortes macht, das ihn so anschaut, wie er es anschaut. Das Schöne an der Volksetymologie ist, dass sie nicht selten trügt. So fügt sie der wissenschaftlichen Etymologie ein populäres Paralleluniversum hinzu und bereichert die Sprache um ein unerschöpfliches Reservoir der hermeneutischen Phantasie, der Assoziationen, Sprachspiele und der pseudogelehrten Mimikry mit der Linguistik.

Ein nicht geringer Vorzug der Volksetymologie ist ihre Unbelehrbarkeit. Das ärgert natürlich die Linguisten, die darum ihrer Expertise folgenden Schlusssatz angefügt haben: "Der deutsche Sprachrat hätte dies wissen und durch einen entsprechenden Kommentar die Entstehung einer Volksetymologie verhindern können." Das erinnert an den von Bertolt Brecht "mit einer Mischung von Vergnügen und Grauen" zitierten Witzblattwitz, in dem ein Aviatiker auf eine Taube deutet und sagt: "Tauben zum Beispiel fliegen falsch."

Nein, dem schönsten Wort ist die Seligkeit nicht abhanden gekommen. Und der Liebeserklärung von Frau Kalka allenfalls das sprachgeschichtliche Fundament, keineswegs aber ihr tief verwurzeltes Recht.

SZ v. 05./06.11. 2004

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