Strauss-Kahn und die Unschuldsvermutung:Kampfbetonte Voreingenommenheit

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Die europäische Maxime, den Angeklagten trotz allen Verdachts möglichst unvoreingenommen zu behandeln, wird in den USA ins Gegenteil verkehrt: Dort nimmt man seine Schuld vorweg.

Andreas Zielcke

In diesem Fall gibt es gute Gründe, bei Adam und Eva zu beginnen. Der biblische Anfang der Geschichte enthält eine Einsicht, die einst höchst wirkungsvoll half, Strafverfolger auf die Unschuldsvermutung zu verpflichten. Doch zuerst ein vielsagendes Urteil des höchsten Gerichts im Staate New York, das dieser Tage, nämlich am 10. Mai, ergangen ist:

Obwohl das französische Presserecht die Abbildung von Beschuldigten, die in Handschellen vorgeführt werden, wegen der Unschuldsvermutung strikt verbietet, waren die demütigenden Bilder von Dominique Strauss-Kahn aus den USA, das kein derartiges Verbot kennt, in jedem Medium Frankreichs zu sehen, wie überall auf der Welt. (Foto: dpa)

Der Angeklagte hatte einen Mann niedergestochen, die untere Instanz hatte ihn darum verurteilt. Nicht durchgedrungen war er mit dem Einwand, dass das Opfer ihn zuvor angegriffen habe. Er habe sich nur wehren können, indem er schließlich dem sich auf ihn stürzenden Angreifer das Messer entwand und in den Leib rammte. In der Tat, das räumte der ermittelnde Polizist in der Verhandlung ein, hätten zwei Zeugen, die am Tatort zugegen waren, ihm während der Festnahme des Angeklagten zugerufen, nicht dieser, sondern das Opfer habe zuerst angegriffen.

Trotzdem hatte der Polizist keinen Anlass gesehen, die Personalien der beiden Zeugen aufzunehmen oder sie gar zu vernehmen. Kein Zeuge konnte also im Prozess die Version des Angeklagten bestätigen.

Dennoch erklärte das Appellationsgericht New Yorks seine Verurteilung für rechtens. Der Angeklagte hätte keinen Anspruch darauf, dass die Polizei Beweise erhebt, die seiner "exculpation" dienen könnten.

Haarsträubend, wie das Urteil anmutet, führt es mitten in das amerikanische Verständnis der Unschuldsvermutung. Warum folgert man drüben nicht aus dieser Vermutung, dass man von Amts wegen jedem plausiblen Indiz nachzugehen hat, das den Angeklagten entlastet? Eine Notwehrsituation wäre eine solche Entlastung.

Warum dürfen Strafverfolger derart einseitig gegen den Angeklagten ermitteln? Zeigt sich darin derselbe Geist, den wir jetzt auch bei der rücksichtslosen Zurschaustellung von Dominique Strauss-Kahn zu beobachten glauben? So offensichtlich sich hier eine andere strafrechtliche Welt auftut, so wenig lässt sich allerdings übersehen, dass sich die kontinental-europäische Praxis der amerikanischen immer stärker annähert.

Zurück aber zu Adam und Eva. Ältere britische und amerikanische Rechtsbücher kolportieren gerne, dass die Unschuldsvermutung eine Errungenschaft der angelsächsischen Rechtstradition sei. Das ist eine Legende; insbesondere die Magna Carta von 1215 enthält sie nicht. Tatsächlich war es kein fortschrittlicher englischer Aristokrat, sondern ein französischer Kardinal, Jean Le Moine (Johannes Monachus), der um die Wende von 13. zum 14. Jahrhundert in der Erläuterung eines päpstlichen Dekrets die Maxime als erster formulierte.

Fast möchte man diese Urheberschaft eines mittelalterlichen französischen Klerikers heute, wo sich französische und angelsächsische Kommentatoren über die polizeiliche Behandlung von Strauss-Kahn so sehr in den Haaren liegen, als boshafte Ironie der Rechtsgeschichte ansehen.

Um zu begründen, dass noch nicht einmal der Papst sich über Grundrechte von Beschuldigten hinwegsetzen könne, beruft sich Jean Le Moine auf die höchstmögliche Instanz. Selbst Gott, so führt er aus, gab Adam die Gelegenheit, sich gegen den Vorwurf zu rechtfertigen, er habe von dem verbotenen Baum gegessen. Mag der Prozess noch so kurz und bündig gewesen sein, den Gott einleitete, so durfte Adam sich doch hinreichend verteidigen: "Die Frau, die du mir beigestellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben und so habe ich gegessen." Erst hiernach fällte Gott sein Urteil.

Auch der Allmächtige musste also, sagt der Kardinal, in einem ordentlichen Verfahren Adams "Unschuld unterstellen, solange er nicht als schuldig überführt ist". Weiß sich aber selbst Gott an diese Maxime gebunden, dann sind es erst recht alle menschlichen Richter, Fürsten und Mächtige.

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Es war dieselbe Zeit, in der man in Europa dazu überging, die alten volksrechtlichen Urteilsverfahren wie das Gottesurteil (Zweikampf) oder Wasserproben zu ersetzen durch rationalere Methoden der Beweisführung, insbesondere durch den Zeugenbeweis. Brillant war die Begründung des Kardinals aber nicht nur, weil sie dieser aufkommenden prozessualen Rationalität einen tieferen Sinn gab. Vielmehr auch darum, weil sie über das kanonische Recht hinaus der gesamten christlichen Welt ein unschlagbares Argument der Unschuldsvermutung lieferte, auch wenn sich das in Anspruch genommene göttliche Recht vor allem seit dem 16. und 17. Jahrhundert säkularisierte und schließlich schlicht als unantastbares "Naturrecht" galt.

Der Sache nach aber trennten sich mit der Zeit im angelsächsischen und im kontinental-europäischen Rechtsraum zwei Linien der Unschuldsvermutung voneinander, die in der ursprünglichen mittelalterlich-kanonischen Fassung zusammengehörten. Hier liegt die Ursache des heutigen Zusammenpralls zweier gegensätzlicher Strafrechtskulturen beim Umgang mit Beschuldigten.

Die eine Linie, die des europäischen Kontinents, versteht die Vermutung als substantielles Recht des Verdächtigten. Darum folgen aus ihr nicht nur Beweisregeln, sondern auch Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit: Dem Angeklagten ist bis zum endgültigen Urteil weitestgehend wie einem Unbescholtenen die Freiheit zu belassen; das ganze Verfahren muss ihm gegenüber unparteilich und fair durchgeführt werden; seine Behandlung hat sich am Respekt gegenüber Unschuldigen zu messen; Gericht und Ankläger müssen auch die Faktoren ermitteln, die zu seinen Gunsten sprechen.

Die andere Linie, die sich in der britischen und dann auch in der amerikanischen Tradition durchgesetzt hat, reduziert demgegenüber die Unschuldsvermutung nahezu auf die Maxime der Beweiswürdigung. Ihr verkleinerter Kern ist nurmehr der Grundsatz "in dubio pro reo".

Nicht zufällig erklärt der Supreme Court 1895 in seinem Urteil Coffin vs. US, das die Unschuldsvermutung historisch zum ersten Mal für die USA explizit anerkennt (mehr als 100 Jahre nach der Menschenrechtserklärung der französischen Revolution!): "Die Vermutung der Unschuld bedeutet die Bewertung der Beweise im Sinne des Angeklagten".

Legt die Anklage Beweise vor, die keine "vernünftigen Zweifel" an der Schuld des Angeklagten erlauben, ist der amerikanischen Unschuldsvermutung genüge getan. Und nur mit dieser ausgedünnten Regel, die sich nicht auf die Würde des Angeklagten, sondern auf die Zweifelsfälle der Beweiskraft konzentriert, ist die Idee des konfrontativen amerikanischen Strafverfahrens vereinbar.

Da sich hier Staatsanwalt und Angeklagter wie in einem Parteiverfahren gegenüberstehen und im Duell von Beweis und Gegenbeweis die "Wahrheit" ermitteln, wird dem Angeklagten eine Rolle als aggressiver Mitkämpfer aufgebürdet, die jegliche substantielle Unschuldsunterstellung dementiert.

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Die europäische Maxime, ihn trotz allen Verdachts möglichst unvoreingenommen zu behandeln, wird hier ins Gegenteil verkehrt. In Amerika nimmt man de facto seine Schuld vorweg, im Prozess kann er sich nurmehr dagegen wehren, überführt zu werden.

Von weiter Ferne scheint hier noch, wenn auch natürlich rationalisiert und aufgeklärt, das alte frühmittelalterliche Strafverfahren mit seinen privatrechtlichen und am Zweikampf orientierten Elementen durch. Dem Begriff der "Wahrheit", die hier ermittelt wird, haftet sehr viel stärker, als wir es mit dem idealisierten europäischen Prozess "objektiver" Wahrheitsfindung verbinden, das Moment des Arbiträren und Konflikthaften an - nicht nur ein archaischer, sondern auch ein postmoderner Zug also.

Die kampfbetonte Voreingenommenheit gegen den Angeklagten ist in Amerika Pflicht der Strafverfolger, in Europa hingegen ein schwerer Regelverstoß. Wie zwei ungleiche Zwillinge, die bei der Geburt getrennt wurden und sich später um das gemeinsame Erbe streiten, stehen sich diesseits und jenseits des Atlantiks die beiden Seiten der ursprünglich einheitlich gedachten Unschuldsvermutung antagonistisch gegenüber.

In den USA agiert der Richter als unparteilicher Hüter der Unschuldsvermutung, indem er sich aus der parteilichen Beweiserhebung heraushält und nur den Schiedsrichter zwischen Anklage und Angeklagten gibt. In Kontinentaleuropa praktiziert er die unparteiliche Unschuldsvermutung, indem er die Beweiserhebung selbst leitet und auch alle entlastenden Faktoren erkundet.

Dass das New Yorker Berufungsgericht den Anklägern, die dem unschuldbegründenden Notwehrargument zugunsten des Angeklagten nicht nachgegangen sind, keinen Vorwurf macht, ist daher schlüssig. Gewürdigt werden bis zur Grenze des "in dubio pro reo" nur die Beweise, die vorliegen, nicht die, die in dem Zweikampfschema der Angeklagte selbst hätte erheben müssen.

So krass aber, wie sich der Unterschied zwischen hüben und drüben darstellt, so unverkennbar schleift er sich auch ab, vor allem in der Öffentlichkeit. Obwohl das französische Presserecht die Abbildung von Beschuldigten, die in Handschellen vorgeführt werden, wegen der Unschuldsvermutung strikt verbietet, waren die demütigenden Bilder aus Amerika (das kein derartiges Verbot kennt) in jedem Medium Frankreichs zu sehen, wie überall auf der Welt. Auch hierzulande verhindert der deutsche Pressekodex dies nicht, obwohl er die Vermutung ausdrücklich bekräftigt, ebenso wenig wie es die Entblößung des Intimlebens von DSK ausschließt.

In der Politik, dem Arbeitsrecht, den öffentlichen Institutionen genügt ohnehin der Verdacht, um den Beschuldigten wie einen Schuldigen aus seiner Funktion zu entfernen. Aber auch spektakuläre Strafverfahren, wie man es bei Kachelmann vorexerziert, arten zunehmend in amerikanischer Manier zum Parteienkampf zwischen Anklage und Verteidigung aus.

Und dachte nicht erst vor wenigen Jahren Wolfgang Schäuble laut über die Abschaffung der Unschuldsvermutung nach (wenn auch erst nur für terroristische und organisierte Kriminalität)? Der transatlantische Kreis scheint sich zu schließen, die Maxime schrumpft auch hier allmählich zur bloßen Zweifelsregel.

© SZ vom 20.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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