Stoppuhr-Kunst:Wir haben doch keine Zeit

Die optimale Fortbewegungsart im Museum: rennen. In London hetzen nun Sprinter durchs Museum und werden selbst zur Kunst. Achtung, Installation kreuzt!

Alexander Menden

Die Skulpturengalerie der Londoner Tate Britain ist freigeräumt. Keine Statue verstellt den Blick vom Eingang bis zur 86 Meter entfernten Stirnwand der Halle. Man könnte also die neoklassizistische Architektur in aller Ruhe studieren - müsste man nicht höllisch auf die Sprinter achten, die ständig wie von der Hornisse gestochen durch den Raum rasen.

the dreamers bertolucci sprinter museum

Szene aus "The Dreamers": Damals-noch-nicht-Bond-Girl Eva Green rast mit ihren Freunden durch den Louvre.

(Foto: Screenshot: Youtube)

Die Leere der feierlichen Marmorröhre trügt. Sie ist nicht etwa aller Installationen entledigt, sondern vielmehr einer einzigen überlassen worden: Die Damen und Herren im graublauen Sportdress, die alle 30 Sekunden im Atrium starten und rund zehn Sekunden später mit quietschenden Sohlen am anderen Ende zum Stehen kommen, gehören zu einem Kunstwerk mit dem poetischen Titel "Work No. 850", einer Schöpfung des Briten Martin Creed.

Berühmt wurde Creed mit "Work No. 227 - The lights going on and off". Für diese Installation, die aus einem sich an- und ausschaltenden Licht in einem nackten Raum bestand, gewann er 2001 den Turner-Preis. Sein neues Werk, eine Auftragsarbeit der Tate, ist ähnlich flüchtig, aber ungleich schweißtreibender - zumindest für die Freiwilligen.

In Filmen wie Jean-Luc Godards "Bande à Part" und Bernardo Bertoluccis "The Dreamers" wird ein Sprint durchs Museum als Akt harmloser Anarchie in ehrwürdigem Rahmen gezeigt. Bei Creed wird das Rennen nicht nur selbst zur Kunst erhoben, sondern auch zur optimalen Fortbewegungsart im Museum erklärt.

Auf die Idee kam Creed, als er in den Kapuziner-Katakomben von Palermo genau fünf Minuten Zeit hatte, bevor diese sich schlossen. Er versuchte, so viel wie möglich zu sehen: "Es war eine gute Art, sie zu betrachten. Ich finde es gut, sich Museen in Hochgeschwindigkeit anzusehen. Da bleibt mehr Zeit für andere Dinge."

Die freiwilligen Sprinter sehen allerdings weder nach links noch nach rechts, sondern nur nach vorn. Sie müssen darauf achten, niemanden über den Haufen zu laufen. Auf die Frage, ob es denn schon zu Karambolagen gekommen sei, antwortet eine etwas sauertöpfische Museumswärterin: "Ja, immer dann, wenn einer so dumm ist, sich ihnen in den Weg zu laufen." Bis Mitte November gilt in der Tate Britain also: Obacht, Installation kreuzt.

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