"Stern" wird 60:Die Wundertüte der Nation

Nach Hitler-Tagebuch-Affäre und Illustriertensterben: Das Allerbeste, was man über den Stern heute sagen kann, ist, dass es ihn noch gibt.

Hans-Jürgen Jakobs

Schwungvoll musste er sein, und doch irgendwie seriös. Also übte Henri Nannen immer wieder, bis er saß, dieser begrüßende Schriftzug: "Lieber Sternleser!" Das schrieb der Mann, der es erklärtermaßen auf "Lieschen Müller" abgesehen hatte, über die Editorials seiner Zeitschrift.

So begann der Stern jahrzehntelang, die "Wundertüte" oder der "Musikdampfer", wie die Illustrierte des Gründungsverlegers Nannen genannt wurde. Er hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Lizenz für die Jugendzeitschrift Zick-Zack ergattert und später spontan einen britischen Presse-Commander namens Baker überredet, daraus den Stern zu machen.

Am 1. August 1948, also vor genau 60 Jahren, erschien das neue Blatt, mit Hildegard Knef im Heu auf dem Titel. Die Zeitschrift mit dem Zick-Zack-Stern gab dem Land lange Zeit ein Bild, sie ließ es auf höherem Niveau menscheln und machte selbstbewusst Kampagnen, für die Ostpolitik oder gegen Paragraph 218, für freie Liebe oder gegen Helmut Kohl, die "Birne".

Das Allerbeste, was man über den Stern heute sagen kann, ist, dass es ihn noch gibt. Das ist schon mal eine Leistung. Viele der Wegbegleiter wie Quick sind verschwunden; erst jüngst gab Revue auf. Und die badische Illustrierte Das Ufer, aus der die Bunte wurde, ist eine Society-Zeitschrift mit Schwerpunkt Liebe und Trennung. Was aber ist der Stern?

Der Chefredakteur schreibt heute "Liebe Stern-Leser" mit Bindestrich und verkündet: "Die schöne neue Teilzeit-Welt hat sich entzaubert", und beim Stichwort Entzauberung fallen einem sofort auch Klassiker der deutschen Presse ein.

Ein politisches Magazin a la Spiegel hat der Stern nicht werden dürfen, und mit Nutzwertthemen hat sich Focus inzwischen schwer sauer gefahren. Die stärksten Elemente in Nannens Tütenmagazin wurden zum Kern neuer Blätter: Die Großberichte aus allen Kontinenten führten zu Geo, und die Fotostrecken macht heute in extensio View. Die Welt kommt heute über Fernsehen und Internet zu Lieschen Müller. Und die findet im Übrigen die großen Männer der Politik ziemlich unspannend.

Der 1996 gestorbene Henri Nannen dagegen hatte es mit Typen zu tun, denen er sich näherte wie der Sonderbotschafter der Pressefreiheit. Mit spitzendiplomatischen Habitus stieg er mit Willy Brandt in den Swimming-Pool oder saß mit Leonid Breschnew auf der Yacht. Ein Fotograf war glücklicherwesie immer dabei.

Party vorbei

Sex und Sternchen sicherten die Auflage, doch als im Mai 1983 der Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher die Redaktion erwischte, war die Party auf einmal vorbei. Der Verlag wollte den Zeitläuften partout mit einem "neuen Nannen" entkommen und verschließ zwischen 1980 und 1999 ein volles Dutzend Chefredakteure.

Danach steuerten Thomas Osterkorn und Andreas Petzold den alten Musikdampfer durch die Krise. Ab und an erschallt noch mal ein wildes Lied, wenn doch mal wieder eine Enthüllungsgeschichte gelungen ist, oft aber liegen die Menschen auf Deck in Liegestühlen und reden von alten Zeiten. An den bebenden Zwischenruf des Politikchefs Hans-Ulrich Jörges haben sie sich so sehr gewöhnt, dass keiner mehr erschrickt. Manche fragen sich, warum es eine Geschichte wie die des serbischen Verwandlungskünstlers Karadzic nicht ins Blatt schafft.

Gut, mit dem Stern ist es nicht anders als mit anderen Attraktionen des Nachkriegsdeutschland. Er ist überall ein bisschen, auch mit eigenen Ablegern im Privatfernsehen und im Internet, und er ist nirgends.

Die netten Dampferkapitäne

In einzelnen Wochen schafft der Papier-Stern die magische Millionenmarke in der Auflage nicht mehr, dabei hatte man früher in goldenen Zeiten die zwei Millionen angepeilt. Man spürt die Sehnsucht nach Munition in dieser flauen Lage. "Sarkozys schärfste Waffe", titelten die netten Dampferkapitäne über Carla Bruni, und die "Feuchtgebiete" der Charlotte Roche visualisierten sie mit ganz viel Damen-Slip.

In solchen Momenten wünscht man sich, jemand würde einem endlich "die Wahrheit wie einen nassen Lappen ins Gesicht klatschen" und nicht auf irgendwelche "Feuchtgebiete" lotsen. Das mit dem Lappen war auch ein Postulat des langjährigen Chefredakteurs Nannen, genauso wie die Anweisung: "Ein Stern-Redakteur darf über alles schreiben - nur nicht über 14 Blatt." Würden sich doch die meisten daran halten!

Henri Nannen war nach eigenem Bekunden "Lieschen Müller", er war seine eigene Zielgruppe. Und er war ein in der Nazi-Zeit groß gewordener Journalist, der den Deutschen bei der Demokratie helfen wollte.

Wie Rudolf Augstein vom Spiegel sah Nannen den bayerischen Politiker Franz Josef Strauß als Lieblingsfeind an. Die CSU-Größe hatte er als Stern-Kolumnist gefeuert, doch als die Zeitschrift 1988 ihr 40-Jähriges feierte, da gratulierte auch Strauß, wenige Wochen vor seinem Tod. Er schrieb unter anderem: "Vielleicht glaubt man ja in der Redaktion, je dunkler die Wirklichkeit gezeigt wird, desto heller strahlt der Stern."

Nun ist der Stern 60, und die Wirklichkeit an sich ist schon ziemlich grell.

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