Stéphane Hessel:Vom Vorzug des Lügens

In dem Buch "Empört Euch!" forderte Stéphane Hessel seine Landsleute zum Widerstand auf und landete einen Bestseller. Ein Gespräch über Lyrik, Geheimnisse - und seine Erlebnisse im KZ.

Hilmar Klute

Stéphane Hessel, Jahrgang 1917, Schriftsteller und ehemaliger Diplomat, ist einer der einflussreichsten Intellektuellen in Frankreich. Hessel wurde in Berlin als Sohn des Schriftstellers Franz Hessel und der Journalistin Helen Grund geboren. Als Stéphane sieben war, zog die Familie nach Paris, er wurde 1937 französischer Staatsbürger und war aktives Mitglied der Résistance. Hessel überlebte mehrere deutsche Konzentrationslager und war nach dem Krieg einer der Autoren der Uno-Menschenrechtscharta. Ende vergangenen Jahres erregte er großes Aufsehen mit seiner Schrift "Indignez-vous!", deren deutsche Übersetzung "Empört euch!" auch hierzulande ein Bestseller ist. Hessel lebt in Paris und Südfrankreich.

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"Wir Europäer haben das Glück, Deutsche unter uns zu haben": Stéphane Hessel hat großen Respekt vor der deutschen Aufarbeitung der NS Vergangenheit

(Foto: AFP)

SZ: Stéphane Hessel, Sie können beinahe hundert Gedichte auswendig sagen. Wie gut muss man ein solches lyrisches Gedächtnis pflegen?

Stéphane Hessel: Ich versuche immer wieder, sie vorzulesen, damit sie in meinem Gedächtnis drinbleiben.

SZ: Welches ist Ihr jüngstes Gedicht?

Hessel: Ich habe mir jetzt Rilkes Gedichte an Orpheus angesehen. Ich konnte ja nur eine der Duineser Elegien auswendig, die erste, und Rilke sagt ja selbst, man müsse, wenn man die Elegien richtig verstehen will, auch die Sonette auswendig lernen, ich habe also die ersten drei Sonette auswendig gelernt, das waren meine letzten.

SZ: Warum ist es wichtig, Gedichte auswendig zu lernen?

Hessel: Ich halte es für wichtig, dass der Mensch in seinem Geist nicht nur das Materielle, sondern auch die Einbildungskraft benutzen kann. Die Lust, etwas auswendig zu können - das hat mich immer beeindruckt. Ich habe das von meiner Mutter gelernt, und es hat mir sehr geholfen in verschiedenen Zeiten meines Lebens, wenn ich mich entweder langweilte oder noch schlimmer: wenn es mir schlecht ging wie in den Konzentrationslagern.

SZ: Es gefällt Ihnen, Menschen zu irritieren, indem Sie plötzlich aufstehen und ein Gedicht rezitieren.

Hessel: Viele fragen, warum soll ich Gedichte hören, das tut mir doch nicht gut. Meine Kinder wissen, dass ich gerne lange Gedichte aufsage, und sie sagen dann: Papa, mais un court.

SZ: Sie wollen nur ein kurzes hören.

Hessel: Ja, es ist vielleicht ein bisschen übertrieben und stellt mich als jemanden vor, der sich für groß hält, und das finde ich auch nicht angenehm. Deshalb versuche ich es auch nicht so oft, wie ich es in meinem Buch sage.

SZ: Ihr Buch "O ma mémoire", in welchem Sie von Ihrer lebenslangen Leidenschaft für Gedichte erzählen.

Hessel: Es macht immer wieder Spaß, wenn man jemanden trifft wie Sie zum Beispiel, und sagt sich, ach, ein kleines Gedicht kann man sich doch aufsagen.

SZ: In Ihrer Autobiographie "Tanz mit dem Jahrhundert" schreiben Sie, man müsse sich ständig bemühen, den Determinismus des Lebens zu überwinden. Was meinen Sie damit?

Hessel: Ich meine das vor allem historisch. Nach dem Fall der Mauer konnte man schon sagen: Jetzt haben wir einen Auftrag, die Welt so zu organisieren, dass die hohen Werte Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit zu ihrem Recht kommen. Jetzt können wir sie zusammen tragen, mit den Russen, warum nicht auch mit den Chinesen. Die Vereinten Nationen sind für mich die wichtigste Institution. Man braucht keine Angst zu haben, man kann diese Probleme lösen.

SZ: Die Revolten in der arabischen Welt zeigen ja, dass sich die Araber gegen ihre Diktatoren auflehnen, wie das die Tschechen, Ungarn, Deutschen und Polen getan haben.

Hessel: Das ist für mich ein wichtiger Aspekt, man weiß ja auch nicht, wie es sich entwickelt, und sollte auch nicht zu optimistisch sein. Aber die Empörung sieht man jetzt überall.

SZ: Geht der Riss nicht dermaßen tief durch die Gesellschaft, dass sich deren soziale Gruppen gar nicht mehr zusammenfinden können, um sich gemeinsam zu empören?

Hessel: Auch die Armen können sich miteinander in Verbindung setzen. Sie wohnen nicht nur allein in einem Land, sind im Internet. In den Foren wie dem Porto Alegre finden wir etwas ganz Neues. Hier löst nicht eine Partei die andere ab, sondern hier finden sich Bürger irgendwie zusammen, um zu sagen: Die Art und Weise, wie wir regiert werden - das geht so nicht mehr.

SZ: Wie erklären Sie sich, dass in Frankreich ein Buch, das die Grundwerte hochhält, und in Deutschland das Gegenteil, nämlich Sarrazins Migrantenpolemik, Erfolg hat?

Hessel: In Frankreich haben wir eine Gruppe um Marine Le Pen, die in der gleichen Richtung arbeitet, und die hatte neun Prozent, jetzt vielleicht 20 Prozent. Das gibt es in Frankreich eben auch. Gerade in Sachen Einwanderung gibt es starke Gegner. Aber ihnen stehen starke Gruppen gegenüber, die sagen, wir dürfen uns nicht so benehmen gegenüber den Roma und den Einwanderern.

SZ: Ist in Frankreich die Empörungskultur eine andere, womöglich eine kräftigere als in Deutschland?

Hessel: Ich glaube ja. Es hat in Frankreich immer wieder große Manifestationen gegeben. Die Franzosen sind es gewohnt, es beunruhigt sie auch nicht. Eine Million Menschen auf der Straße zeigt ja, dass die Regierung nicht die richtige ist.

"Dann kam der schreckliche Kerl Hitler"

SZ: In Ihrer Autobiographie schildern Sie die große Bedeutung von Kultur und Bildung im KZ.

Hessel: Ich konnte die meisten meiner Gedichte damals schon auswendig. Gerade die deutsche Sprache war ja in den Konzentrationslagern sehr wichtig. Einer, der Deutsch sprach, konnte sich besser behaupten als jemand, der kein Deutsch sprach. Zum Beispiel mit einem Kapo, der mal Lust hat, ein deutsches Gedicht zu hören, das kann schon viel dazu beitragen, dass man überlebt.

SZ: Ihr lyrisches Gedächtnis war also ein Überlebensinstrument im rein praktischen Sinn.

Hessel: Im rein praktischen Sinn ja. Entweder wurde der Kapo wütend und gab einem nochmal 'ne Ohrfeige, oder er sagte: Ja, das hör' ich mir gern an. Das war die Schwierigkeit, gut zu unterscheiden: Was für ein Kapo ist dieser, was für ein Stubenältester ist der, kann man mit dem versuchen, etwas herauszuschlagen oder muss man im Gegenteil sehr vorsichtig sein, weil der brutal wird.

SZ: Waren Sie mit Ihrem geistigen Vermögen im Lager privilegierter als andere?

Hessel: Die Gedichte haben sicher dazu beigetragen, aber ich muss hinzufügen, dass ich ein unglaubliches Glück bei meinem Gang durch das Lager hatte. Ich kam an und wurde die ersten vier Wochen in einen Block geschickt, wo man nicht arbeitete. Die im Lager Buchenwald wussten, dass sie zum Tode verurteilt waren. Wir wussten es nicht und dachten, hier kann man doch leben in Buchenwald. Wir hatten Block 17, da waren wir zusammen, also das war schon ein Goodwill. Als dann sechzehn Kameraden aufgehängt wurden, kam ich ins Typhuslager. Und da habe ich ziemlich gut gelebt: Wir bekamen zu essen, wir saßen in einem besonderen Raum, zwei Engländer und ich. Es war also auch kein schlechtes Leben. Dann wurde ich nach Rottleberode geschickt.

SZ: Ein Außenlager von Buchenwald.

Hessel: Das war ein Lager, wo die Nazis ihre Wehrindustrien bauten; sie hatten keine Arbeitskräfte mehr, die waren alle in Russland oder so. Sie brauchten Ausländer zum Arbeiten, die nicht sehr gut behandelt wurden. Aber sie arbeiteten und schliefen, das war für mich wiederum eine Periode, wo ich nicht sehr gelitten habe.

SZ: Wann hat Ihr Leiden angefangen?

Hessel: Die zwei Perioden richtigen Leidens waren zwischen meiner Verhaftung und meiner Deportierung nach Buchenwald, also dieser Monat vom 10. Juli bis zum 8. August. Ich wurde von der Gestapo gefoltert, sie wollten uns zum Reden bringen und wir wollten nicht. Ich bin geflohen, wieder erwischt worden und kam nach Dora.

SZ: Eines der brutalsten Arbeitslager.

Hessel: Ein fürchterliches Lager, wo man wirklich keinen Moment Ruhe hatte. Man musste arbeiten, wurde sehr schlecht von den Kapos behandelt und hatte immer das Gefühl, es würde nicht enden. Es war Februar, März, April, man wusste, die Nazis hatten den Krieg verloren, aber sie werden uns vielleicht umbringen, damit wir nicht erzählen können, was wir in Dora erlebt hatten. Wissen Sie, ich bin kein guter Zeuge für die Schrecken in den Lagern, ich war nicht in Auschwitz oder Neuengamme.

SZ: Aber diese Schrecken beschreiben Sie immer wieder und nehmen sie auch zum Anlass für Ihre Mahnungen an die heute Verantwortlichen.

Hessel: Ich denke, es ist heute leichter, darüber zu sprechen. All die Fragen nach den Ursachen werden heute selbstverständlicher gestellt als vor 40 Jahren. Ich habe große Ehrfurcht davor, wie die BRD diese Zeit historisch aufgearbeitet hat, man wusste schon viel von den Schrecken in der deutschen Literatur, anders als in Frankreich. Natürlich war Vichy nicht so fürchterlich wie Berlin, aber immerhin ist doch viel Schlimmes in Frankreich in diesen Jahren passiert, das hat man sehr lange verschwiegen.

SZ: Aber bei uns kam es auch reichlich spät, man hat einfach so weitergemacht. Und Paul Celan wurde von den bürgerlichen Literaten der Gruppe 47 sogar verhöhnt, als er sein Auschwitz-Gedicht Todesfuge vortrug.

Hessel: Wahrscheinlich braucht es immer eine gewisse Zeit. Es ist nicht leicht. Aber das deutsche Volk hat ein unerhörtes zwanzigstes Jahrhundert gehabt. Was hat dieses Volk durchgemacht! Das große Kaiserreich, dann kommt der schreckliche 14/18-Krieg, den Deutschland militärisch eigentlich nicht verloren hat, der aber so stark auf die Deutschen gewirkt hat. Dann kam die interessante Zeit zwischen 1919 und 1933, als hier sehr viel los war. Viel in der Literatur, die Jahre von Hofmannsthal, Rilke, Kafka. Dann kam der schreckliche Kerl Hitler, und es war ja so, dass es ein Deutscher zu der Zeit schwer hatte, nicht mitmachen zu wollen. Hitler war ja so siegreich.

SZ: Sie waren niemals von ihm infiziert?

Hessel: Ich war ja in Frankreich und bin seit 1942 nicht mehr nach Deutschland gekommen.

SZ: Das heißt, dass Ihr Bild von Deutschland...

Hessel:... das eines Franzosen war, ja. Aber das historische Gedächtnis ist eine enorme Last und eine große Verantwortung für einen Deutschen. Wir Europäer haben das Glück, dass wir die Deutschen unter uns haben. Sie tragen eine Erfahrung, die für uns sehr wichtig ist.

"Nicht das Leben, das ich mir wünschte"

SZ: Sie haben geschrieben, Sie hätten eine Neigung zu Eskapaden, die auf einer Moral gründet, die Sie von Ihrer Mutter mitbekommen haben und die libertär ist.

Hessel: Eigentlich habe ich gar nicht das Leben, das ich mir gewünscht hätte, gelebt. Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich nach meiner Jugend sehr schnell etwas Größeres erreicht hätte. Ich habe früh gespürt: Ein Dichter bin ich auf keine Weise, und gerade weil ich Gedichte so liebe, muss ich zugeben: Ich kann keine schreiben. Ich hätte auch gerne in einer romantischen Weise, um meine Mutter zu beglücken, etwas Heldenhaftes getan. Dazu bin ich nicht gekommen.

SZ: Aber Sie haben Résistance und Krieg überlebt.

Hessel: Den Krieg habe ich wie irgendein Franzose so überlebt, dass es eher schlecht- als gutgegangen ist, und als ich herauskam, hatte ich die Wahl zwischen Philosophielehrer - das fand ich zu banal - oder internationaler Politik. Und das ist vielleicht das Einzige, für das ich mein Leben befürwortet und vielleicht sogar genossen habe: Ich habe mich schon sehr früh für Menschenrechte eingesetzt.

SZ: Aber wo sind bitte die Eskapaden?

Hessel: Die sind ein bisschen verlorengegangen. Wenn so ein Büchlein wie "Empört euch!" derart angenommen wird, als wäre es eine Eskapade, dann macht mich das besonders froh. In Paris habe ich seither keinen ruhigen Moment mehr, und jetzt reise ich auch noch herum. Es ist zeitlich schon sehr bedrückend, aber immerhin gehört es zu dem, was mich freut, getan zu haben. Irgendwie habe ich etwas gemacht aus meiner Lebenserfahrung und der Erfahrung einer besonderen Moral. Die meiner Eltern war ja keine bürgerliche Moral, sondern etwas dem Entgegenstehendes. Und es freut mich, wenn ich jetzt in Paris spazieren gehe und jemand sagt: "Ah, c'est vous, Stéphane Hessel, mais bravo!" Das ist für mich etwas überraschend, aber nicht unangenehm.

SZ: Sie haben, sagen Sie, eine fatale Neigung zum Lügen, die sich nicht auflösen lässt.

Hessel: Das ist ein sehr persönliches Element. Für mich ist es am wichtigsten, positive Beziehungen mit Menschen zu haben, ich lege Wert darauf, dass einer, der mit mir spricht, lächelt und sich freut. Und was mir immer wieder passiert: Man liebt ja nicht nur eine Frau in seinem Leben, und wenn man zwei liebt, dann muss man irgendwie lügen.

SZ: Zwei Frauen gleichzeitig?

Hessel: Gleichzeitig. Das Lügen ist für mich eine Art und Weise, sérénité aufzubringen.

SZ: Ausgeglichenheit?

Hessel: Ja, denn lügen ist ja besser, als Schwierigkeiten zu bekommen. Meine zweite Frau sagt: Du lügst so viel. Zum Beispiel, wenn jemand sagt, ich habe ein wunderbares Buch gelesen, dann sagst du: Ja, das habe ich auch gelesen. Dabei hast du es gar nicht gelesen. Aber um ihn zu erfreuen, sage ich es. Mein Wunsch, Menschen nicht zu enttäuschen, ist zu stark. Es ist ein Narzissmus, den man bewältigen müsste, aber ich bin aufrichtig genug, um zu sagen: Ich lüge.

SZ: Eine Höflichkeitstugend.

Hessel: Das kommt auch sehr dazu, ja. Die Erziehung eines Diplomaten hat damit zu tun. Diplomaten sagen nicht immer die Wahrheit. Deshalb bin ich auch kein Befürworter von Wikileaks. Obwohl viele meiner Freunde sagen, die muss man unterstützen, das ist doch gut, dass es Transparenz gibt. Ich sage: Diplomaten müssen lügen können, sonst kann man keine Diplomatie betreiben.

SZ: Wikileaks will Transparenz und keine politischen Hierarchien.

Hessel: Aber die internationale Verständigung braucht ein gewisses Geheimnis. Meine Lebenserfahrung lehrt mich: Man kann nicht immer alles sofort und schnell sagen. Man muss es verstecken und damit herauskommen, wenn der Zeitpunkt da ist. Allzu offen zu sein, führt auch zu Big Brother. Ich habe eine alte Moral: eine Ethik des Privaten.

SZ: Wenn in Ihrem "Empört euch!" ein Gedicht stehen müsste, welches müsste das sein?

Hessel: Das lange schöne Gedicht von Guillaume Apollinaire "La Jolie Rousse" hört mit drei Zeilen auf, wo er sagt: "Aber lacht doch, lacht über mich, es gibt so viele Sachen, die ich euch nicht gesagt habe, so viele Sachen, die ich euch nicht sagen durfte, lacht über mich."

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