Sten Nadolny zum 70.:Schwer zu packendes Pokerface

Understatement als rhetorischer Bluff: Auf den ersten flüchtigen Blick mögen die Sätze von Sten Nadolny beschaulich wirken, doch seine Bücher sind Ausdruck literarischer Könnerschaft und letztlich ein raffiniertes Spiel. Nun wird der Verfasser des Sensationserfolges "Die Entdeckung der Langsamkeit" siebzig Jahre alt.

Florian Welle

Reisen, immer wieder Reisen. Autoreisen, Schiffsreisen, Eisenbahnreisen. Auch Reisen durch Raum und Zeit. Sogar das. Selbstverständlich sogar das. In Sten Nadolnys Romanen sind die Protagonisten immer unterwegs. Der Studienreferendar Ole Reuter im Debüt "Netzkarte" (1981) mit der Bahn durch die Bundesrepublik (und dann noch einmal in "Er oder Ich" von 1999); der Polarforscher John Franklin im Welterfolg "Die Entdeckung der Langsamkeit" (1983) zur See; und während der schelmische Griechengott Hermes, einmal von seinen Fesseln befreit, in "Ein Gott der Frechheit" (1994) schwerelos durch unsere Gegenwart springt, von Ohr zu Ohr und immer auf den Fersen der schönen Helga Herdhitze (dieser Name!), vollführt der Richter a. D. Wilhelm Weitling in "Weitlings Sommerfrische" (2012) die Zeitrolle rückwärts. Ein Segelunfall auf dem Chiemsee katapultiert ihn in seine Kindheit in den fünfziger Jahren. Als "Geist ohne Physis" schaut er sich da noch einmal beim Erwachsenwerden über die Schulter. Und die Autofahrt? Die hat der Schriftsteller selber unternommen, unmittelbar nach der Wende. Da kurvte er mit einem Trabi durchs Land.

Sten Nadolny

Als Romancier ein glänzender Stilist: Sten Nadolny, der seinen 70. Geburtstag feiert.

(Foto: dpa)

Am Sonntag wird Sten Nadolny siebzig Jahre alt. Dass der Archäologe der Bewegung seinen runden Geburtstag nicht zu Hause in Berlin oder am Chiemsee begeht, ist nicht weiter verwunderlich. Er hat sich in die Ferne aufgemacht; erst seinen Achtzigsten will er nach eigenen Aussagen hierzulande gebührend feiern.

Das Buchcover für Nadolnys Erstling "Netzkarte" zeigt William Turners Gemälde "Rain, Steam and Speed". Der "Great Western" prescht da aus der Tiefe heran - ein Farb- und Geschwindigkeitsrausch. Aus kulturhistorischer Sicht ist Turners Bild Symbol für das, was einst Wolfgang Schivelbusch "die Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert" und jüngst Jürgen Osterhammel "die Verwandlung der Welt" genannt haben. Auch Osterhammels schwergewichtiges Buch ziert nicht von ungefähr Turners Gemälde.

Schivelbuschs "Geschichte der Eisenbahnreise" erschien 1978, und der studierte, für eine kurze Zeit auch selber lehrende Historiker Nadolny dürfte es damals sicherlich gelesen haben. Jedenfalls entzieht sich bereits sein "Netzkarten"-Erzähler Ole Reuter den Zumutungen einer beschleunigten Moderne, indem er einfach Zeit verstreichen lässt: "Wer das tut, verhält sich friedlich und bleibt doch wach genug, um nichts zu verpassen."

Was sich in dem Zitat bereits andeutet: Nadolnys Helden sind stoische Beobachter. Der genaueste von ihnen ist John Franklin. Natürlich. Nadolny hat dem britischen Seefahrer eine Schwäche angedichtet, die im Romanverlauf zu seiner größten, das Leben vieler Menschen rettenden Tugend werden wird: eine unerhörte Langsamkeit.

Den Erwartungshaltungen nie nachgegeben

Die "sanfte, allmähliche Entdeckung der Welt und der Menschen" beruht auf dieser besonderen Art des Sehens und Wahrnehmens und ist das utopische Moment des Buches. Bis heute begeistert es die Leser. Millionenfach hat sich die "Entdeckung der Langsamkeit" weltweit verkauft - was für einen Schriftsteller Segen, zugleich aber auch Fluch sein kann.

Nadolny hat den Erwartungshaltungen, die mit dem Sensationserfolg einhergingen, nie nachgegeben. In das jüngste Werk "Weitlings Sommerfrische", das auch als ein subtiles Spiel mit der eigenen Biografie gelesen werden kann, hat er den beredten Satz eingeschmuggelt: "Danach verlor er den Kontakt zum Publikum wieder, aber er blieb ein Name."

Weitaus interessanter an der "Entdeckung" als sein zum geflügelten Wort mutiertes Thema ist heute sowieso etwas anderes: das Nachwort. Nadolny hat es viele Jahre später einer Neuauflage hinzugefügt, und es stellt nichts Geringeres dar als eine Poetik in nuce. Ihr möglicher Titel: Die Geburt des Schriftstellers aus dem Geiste des Kinos.

Lust am Fingieren von Traumlebensläufen

Nadolny war ja zunächst beim Film tätig, erst als Produktionsfahrer, dann als Aufnahmeleiter. Hier wurde er ermutigt, eigene Geschichten zu erzählen. Prägend sei bestimmt nicht ein einzelner besonders guter Film gewesen, "aber das Handwerk des Erzählens in bewegten Bildern überhaupt, mit dramaturgisch begründeter Beschleunigung und Verlangsamung. Warum nicht einfach aufschreiben, was ich sah, hörte, fühlte und dachte, eines nach dem anderen, wie es kam?" Sich bewegen, beobachten, erzählen.

Seit seinen Anfängen, also dem Filmchen "Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat" der Gebrüder Lumière, liebte das Kino die Eisenbahn, und wahrscheinlich liegt auch hier ein Grund dafür, warum sie in Nadolnys Werk eine so wichtige Rolle einnimmt. "Die Schienenfugen gaben den Rhythmus", heißt es im "Ullsteinroman" (2003), der die Geschichte der Verlegerfamilie Ullstein erzählt und mit einer Schilderung der allerersten Eisenbahnfahrt auf deutschem Boden von Fürth nach Nürnberg im Jahre 1835 beginnt.

"Das große Spiel" ist der Fortsetzungsroman, den Nadolny Mitte der neunziger Jahre gemeinsam mit den SZ-Autoren Michael Winter und Harald Eggebrecht geschrieben hat, und der Titel umschreibt ziemlich gut, was das gesamte Œuvre bis heute auszeichnet: Lust am Erfinden von Geschichten, am Fingieren von Traumlebensläufen, am Experimentieren mit Erzählformen. Der Schriftsteller entzieht sich immer wieder mit schier diebischer Freude jeder Festlegung. Unter seinen Büchern findet sich auch ein Comic. "Amnea - Oder: Die fliegende Teekanne" (2001) entstand in Zusammenarbeit mit dem Zeichner Loomit.

Leute, die Raum einnehmen

Als Romancier ist Nadolny ein glänzender Stilist. Der Aufbau der Romane ist wohl durchdacht, die Sätze sind fein ziseliert, leichtfüßig. Was auf den ersten flüchtigen Blick beschaulich wirken mag, ist Ausdruck literarischer Könnerschaft und letztlich auch wieder nur ein raffiniertes Spiel mit unseren Leseerwartungen.

Understatement als rhetorischer Bluff. Nadolny, diese hochaufragende Masse Mann, die einst über den John Franklin sagte, die Figur sei von ihm "gezinkt" worden, ist im Grunde: ein schwer zu packendes Pokerface. So könnte einen der ruhige Erzählfluss von "Weitlings Sommerfrische" zunächst dazu verführen, seinen ersten Roman seit neun Jahren leichtfertig zu unterschätzen.

"Erzählende Menschen, das sind Leute, die Raum einnehmen, hörbar werden und erfahren, dass das Erzählen auch belohnt wird", hat er einst in einem Interview mit der Literaturzeitschrift Erker bei Erscheinen des Romans "Selim oder Die Gabe der Rede" (1990) gesagt. Der Erzähler Sten Nadolny nimmt den Raum ein, der ihm gebührt.

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