Ständige Erreichbarkeit:Jenseits der Stille

Handy und Mail sind eine Art Nuckelflasche, aus der man sich süßen Brei holt: Wie wir verlernen, mit uns selbst alleine zu sein.

Alex Rühle

Als Blaise Pascal schrieb, dass "das ganze Unglück der Menschen allein daher rührt, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen", muss es noch stille Zimmer gegeben haben. Heute hilft selbst das Einschließen im Arbeitszimmer nicht mehr gegen das Unglück, schließlich ist man auch in den eigenen Räumen, in tiefer Nacht, nicht alleine.

Ständige Erreichbarkeit: Kokon aus Geplapper: Menschen sind nicht mehr in der Lage, sinnvoll Zeit mit sich selbst zu verbringen.

Kokon aus Geplapper: Menschen sind nicht mehr in der Lage, sinnvoll Zeit mit sich selbst zu verbringen.

(Foto: Foto: ddp)

WLAN ist überall, wir sind sogar zu Hause mit hunderten von Menschen vernetzt, gerade eben zum Beispiel, um 23 Uhr, kam eine Mail, dass X mich zu ihren Freunden auf Facebook hinzufügen möchte. Was merkwürdig ist, da wir seit neun Jahren auf einem Stockwerk arbeiten und noch nie wirklich miteinander geredet haben. Dann kam noch eine Mail mit einem Youtube-Link, der mich wiederum im Netz versacken ließ und schon war das fade, ruhige Feierabendunglück, alleine in meinem Zimmer, wieder mal perfekt.

Nun muss man ja höllisch aufpassen, wenn man Bedenken gegen das Internet anmeldet oder überhaupt gegen Technik. Man bekommt dann eimerweise Kommentare geschickt. Also: Das Internet ist großartig, ein Panoramafenster zur Welt, mitunter nützlich zur Umgehung von staatlicher Zensur wie im Iran, die E-Mail ist auch eine fabelhafte Erfindung, der Blackberry sowieso. Gleichzeitig: ist da ein bohrendes Gefühl des Mangels.

Auch dieses Gefühl ist dabei erstmal nicht neu. Michel Foucault beklagte in den siebziger Jahren den Verlust der "Schweigekultur", das permanente Geplapper der Fernsehgesellschaft würde alle Selbstregulationsfähigkeiten verkümmern lassen. Alexander Mitscherlich sah 1950 den Menschen als hibbeliges Elementarteilchen, ein Wesen, das ,,sich nicht mehr als geschichtliches Wesen kennt, sondern nurmehr als punktuelles, augenblicksbezogenes Triebwesen".

Keine Einsamkeit

Tocqueville wunderte sich 120 Jahre zuvor, 1832 auf seiner Amerikareise, über ,,all die Menschen, die sich rastlos im Kreis drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu schaffen, die ihr Gemüt ausfüllen." Seiner Meinung nach steckten sie fest in einem ,,Zustand der Kindheit", in dem sie ,,nichts anderes im Sinn haben, als sich zu belustigen". So weit, so bekannt. Es ist etwas anderes: Es ist die Gewissheit, dass es keine Einsamkeit mehr gibt. Dass die Menschen nicht mehr in der Lage dazu sind, sinnvoll Zeit mit sich selbst zu verbringen.

Albert Robida, ein französischer Comiczeichner und Erzähler vom Anfang des 20. Jahrhunderts, entwarf in einigen Science-Fiction-Geschichten ein erstaunlich genaues Bild unserer Mediengesellschaft. In seinen Erzählungen stehen riesige Flachbildschirme herum, über die auf Endlosbändern Nonstop-Nachrichten aus aller Welt laufen, es gibt Videotelefonkonferenzen, ganz abgesehen von biologischer Kriegsführung, Umweltzerstörung und einem immens beschleunigten Leben.

In einem Interview im Jahre 1919 sagte er, er beneide die Menschen der Zukunft kein bisschen: ,,Sie werden ihren Alltag im Räderwerk einer total mechanisierten Gesellschaft verbringen, in einem Maße, dass ich mich frage, wie sie noch die einfachsten Freuden genießen wollen, die uns zur Verfügung stehen: Stille und Einsamkeit. Aber da sie all das überhaupt nie kennengelernt haben werden, wird es ihnen auch nicht fehlen."

Wie prophetisch: Die kanadische Soziologin Rhonda McEwen, die das Kommunikationsverhalten von Jugendlichen untersucht, sagt, dass viele Jugendliche mit ihren elektronischen Geräten einen so dichten Kokon aus Geplapper um sich gesponnen haben, dass sie nicht mehr wissen, was Alleinesein bedeutet.

Dauergeschnatter auf allen Kanälen

Eine ihrer jungen Interviewpartnerinnen sagte auf die Frage, wann sie alleine sei: Im Tunnel zwischen Manhattan und Queens, wenn kein Empfang ist, und das sei schrecklich. In Kanada war es über Generationen hin üblich, die Sommerferien in der Einsamkeit der Natur zu verbringen, das ändert sich laut Ewen gerade dramatisch: "Die Teilnehmer meiner Studie fühlten sich allesamt sehr unbehaglich, wenn sie raus in die Natur fuhren. Wenn es dort kein Internet und keinen Handyempfang gibt, denken sie: ,Was zum Teufel soll ich hier?' Also fahren sie einfach gar nicht mehr."

Der 21. April 2009 hätte ein Tag der Freiheit werden können; ein Tag der Stille und inneren Sammlung; ja, ein nationaler Tag des autonomen Ichs!

Am 21. April 2009 hat ein heldenhafter Telekom-Angestellter das Dauergeschnatter auf allen Kanälen nicht mehr ausgehalten und einfach mal für Ruhe gesorgt. Er hat an jenem Nachmittag das System runtergefahren (angeblich aus Versehen) und dadurch 29 Millionen Telekom-Kunden fünf Stunden Stille geschenkt. Insgesamt sind das 145 Millionen Stunden, in denen diese Menschen endlich hätten in sich gehen können, durch Flussauen wandeln, ein gutes Buch in der Hand.

Stattdessen hackten die Telekom-Kunden wie besinngslos auf ihre Handys ein und deckten dann umgehend das Unternehmen mit Beschwerdemails ein. Eine Welle der Empörung rollte über das Land, Unternehmer verklagten die Telekom, weil sie wichtige Geschäftspartner nicht erreicht hatten, aufgelöst jammerten Menschen in Fernsehkameras, sie fühlten sich wie amputiert.

Phantomschmerz

Es ist kein Wunder, dass man offline solche Amputations- oder Unvollständigkeitsgefühle hat, schließlich delegieren wir längst einen Großteil unseres Wissens und Gedächtnisses an das Netz und überlassen unseren Geräten die Macht über unseren Tagesrhythmus. Kevin Kelly, der Gründer der Zeitschrift Wired, schreibt: ,,Je mehr wir dem Megacomputer beibringen, desto mehr übernimmt er die Verantwortung für unser Wissen. Er wird zu unserem Gedächtnis. Dann wird er zu unserer Identität. 2015 werden sich viele Menschen, wenn sie von der Maschine getrennt sind, nicht mehr wie sie selbst fühlen. Als wären sie einer Lobotomie unterzogen worden."

Viele kennen heute schon das Gefühl eine Phantomschmerzes, wenn sie mal offline sind. Der amerikanische Blackberry trägt nicht umsonst den Spitznamen Crackberry, viele User bekennen, dass der letzte Blick am Abend und der erste am Morgen nicht ihren schlafenden Kindern, sondern dem Display ihres Organizers gilt, dass sie sich ohne ihn unvollständig fühlten.

Lesen Sie auf Seite 2, von welchen Ängsten unser Kommunikationsverhalten gelenkt wird.

Die Anderswo-Gesellschaft

"Wir haben uns verwandelt von einer Gesellschaft, die den einsamen Typen auf dem Rücken eines Pferdes feierte, zu einer Gesellschaft, der es am wichtigsten wurde, möglichst schnell möglichst viele Datenströme zu verwalten", schreibt der New Yorker Soziologieprofessor Dalton Conley in ,,Elsewhere, U.S.A.: How We Got From the Company Man, Family Dinners, and the Affluent Society to the Home Office, BlackBerry Moms, and Economic Anxiety".

In seinem Buch untersucht er, wie sich durch Instant-Messaging, Mail und Home-Office unser Kommunikationsverhalten geändert hat - und wie sich unter diesem Verhalten tiefe Ängste manifestieren: Heute würden alle, vom einfachen Arbeiter bis zur Führungskraft, permanent von dem Gefühl gejagt, zu wenig Zeit zu haben und zu wenig zu arbeiten. Weshalb eben alle versuchten, permanent erreichbar zu sein, wochenends genauso wie in den Ferien. Warum nicht schnell den Termin koordinieren und einen Flug buchen? Und wenn man am Sonntag zehn Mails beantwortet, muss man das nicht mehr am Montag morgen im Büro machen.

Conley schreibt, wir seien keine Individuen mehr, die nach Authentizität streben, sondern ,,Intraviduen", die gehetzt einen konstanten Strom von Messages, Anrufen, Kontakten und Daten zu managen versuchen. "Die Bewohner unserer Anderswo-Gesellschaft haben aufgrund ihres quälenden Kontingenzbewusstseins (warum bin ich gerade hier, ich könnte ja auch woanders sein) nur dann das sichere Gefühl, am richtigen Ort zu sein und das Richtige zu tun, wenn sie auf dem Weg zum nächsten Ziel sind."

Flackernde Zerstreutheit

Schizophrene leiden oft an Ahedonie, also dem Verlust aller Lebensfreude und -lust. Psychologen erklären das mit ihrer Unfähigkeit, Stimuli auszusortieren, die permanente kognitive Erschöpfung führe zu grauer Mattigkeit. Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi zitiert in dem Zusammenhang einen depressiven Patienten, der sagt, das Quälendste für ihn sei, dass die Dinge zu schnell auf ihn einprasselten: ,,Ich versuche, auf alles auf einmal zu achten und kann mich deshalb auf nichts konzentrieren."

Klingt bekannt: Abends, auf dem Heimweg, nach der Arbeit - ist es da nicht, als habe man den ganzen Tag lang leeres Papier in die Luft geworfen? Man erlebt eine Art flackernder Zerstreutheit, schließlich fallen im Zustand dieser Totalvernetzung rasende Schnelligkeit und gähnende Leere zusammen. Ob Büronomaden früherer Jahrzehnte, Foucaults Plapperer, Mitscherlichs punktuelle Triebwesen, Tocquevilles Vernügungsfanatiker, ob sie dieses Gefühl schon genauso kannten?

Wer mit dem steten Bewusstsein des eigenen Ungenügens arbeitet (und das tun die meisten), der möchte schneller sein. Da die meisten Wirtschaftsprozesse aber längst hochgradig optimiert sind, kann man kaum noch schneller werden, sondern höchstens "Zeit verdichten", also alles auf einmal machen. Und zwar permanent.

Wahrscheinlich wird der konzentriert vor sich hin werkelnde Mensch in späteren Epochen mal eine Art obskures Merkmal vergangener Zeiten sein, ausgestellt in Museen wie mittelalterliche Fassbinder, Schindelmacher oder Tuchweber: "Schau nur, Liebling, der einsame Mann da, der im mausgrauen Anzug aus dem 20. Jahrhundert, der macht nur eine Sache auf einmal."

Null Aufschub

Kein Wunder, dass immer mehr Menschen Klosteraufenthalte, Schweige-Retreats oder Meditationswochen in Entschleunigungsoasen buchen; dass an Flughäfen und Bahnhöfen, in Einkaufszentren und Freizeitparks, in Fußballstadien und auf Messegeländen "Räume der Stille" gebaut werden; dass das Sheraton in Chicago damit wirbt, dass die Gäste ihre Mobilfunkgeräte kostenlos wegschließen lassen können, das Fünfsternehotel Vigilius in Südtirol stolz darauf ist, Zimmer ohne Fernsehen, Radio und Internet anzubieten, und Air Berlin mit dem handyfreien Flug wirbt: Die Stille wird für immer mehr Menschen zu einem tiefen Bedürfnis.

Die zweite Angst, die Conley beschreibt, das ist die Angst, alleine zu sein. Abgeschnitten vom Rest der Welt. Handy und Mail sind auch eine narzisstische Falle, eine Art Nuckelflasche, aus der man sich süßen Brei holt, das Gefühl, gebraucht, geliebt, angesprochen zu werden. Sobald der Blackberry in der Hosentasche vibriert, gibt es null Aufschub, muss man sofort nachschauen, wer da was Leckeres geschickt hat. Aber wie das so ist mit dem Narzissmus: Wenn keine Bestätigung kommt, gähnt Leere. "Ich bin mailsüchtig", jammert Dilbert in einem der gleichnamigen Comicstrips. "Meine Endorphine feiern Party, sobald ich eine Mail kriege. Und wenn keine kommt, dann übermannen mich Einsamkeit und Verzweiflung."

Sollte Ihr Kind in späteren Dekaden mal eine Analyse machen und dann verstört zu Ihnen kommen, Papa, ich träum plötzlich dauernd von dir, aber du hast immer so ein kaltes blaues Gesicht, dann erklären Sie ihm: "Das kommt daher, dass ich immer in einen Computerbildschirm gestarrt habe, wenn ich in frühen Jahren mit dir geredet habe, mein Lieber." Im Ernst: Wie oft haben Sie mit Ihrem Kind geredet und währenddessen E-Mails auf ihrem Blackberry gecheckt oder "nur kurz" eine SMS verschickt? War das früher auch so? Haben unsere Eltern in ihre Olympia-Schreibmaschine eingehämmert, während sie uns sagten, wir sollten uns die Zähne putzen?

Cold Turkey

Bei den Kindern ist es teilweise noch ärger: Man muss sehen, was mit einem Zwölfjährigen passiert, wenn ihm die Eltern einen Tag lang verbieten, im Netz auf seine Lokalistenseite zu gehen: Cold Turkey. Panik steigt auf, die anderen könnten Schlechtes über einen schreiben. Die bittere Ironie daran ist, dass genau diese Angst vor dem Alleinsein einen dazu treibt, konstant zu texten und zu twittern, dass aber dieses Tun genau diese Angst verstärkt.

Der Literaturkritiker William Deresiewicz vergleicht diese fundamentale Angst vor der Einsamkeit mit der Erfahrung der Langeweile der vorangehenden Generation: Natürlich gibt es das Gefühl der Langeweile seit Jahrhunderten. Das große Zeitalter der Langeweile setzte aber erst ein mit dem Fernsehen, eben weil das Fernsehen dieses Gefühl betäuben sollte: Nichts zu tun zu haben bedeutet ja nicht automatisch, dass man sich langweilt. Langeweile ist nur die negative Reaktion auf diesen Zustand. Und Fernsehen, so Deresiewicz, "hindert einen gerade dadurch, dass es einen davon abhält, mit dem Nichtstun jemals irgendwie umzugehen, dieses jemals genießen zu können. Ja, es macht schon die Aussicht dieser Erfahrung zu etwas Unerträglichem. Du bekommst Angst vor der Langeweile - und machst den Fernseher an."

So ähnlich verhält es sich heute mit der Einsamkeit: Alleine die Aussicht, es könnte keiner anrufen, treibt einen dazu, selbst loszusimsen. Auf Rhonda McEwens Frage, wann sie denn alleine seien, sagten viele Studenten: gar nicht. Und sie fügten an: Wer will denn bitte schon allein sein?

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