Spurensuche:Nahaufnahme des Hasses

Spurensuche: Giorgione und / oder Tizian: "Kreuztragender Christus" (um 1505).

Giorgione und / oder Tizian: "Kreuztragender Christus" (um 1505).

(Foto: picture-alliance; Jemolo, Leem; San Rocco Venedig)

Auch in der Gruppe ist jeder ein Einzeltäter: "Kreuztragender Christus", ein Gemälde aus der Renaissance, zeigt Jesus und einen seiner Schächer.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Die Mechanismen des Hasses zeigt ein Bild aus der Renaissance

Hass mag es immer gegeben haben, im Moment aber wird er als gesellschaftliches Phänomen unübersehbar, sei es bei Wahlveranstaltungen von Donald Trump, bei Ausschreitungen gegen Flüchtlinge oder den Terroranschlägen von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates. In den USA und Deutschland gibt es eine Debatte über Ursachen und Wirkungen des Hasses (zuletzt thematisierte die Philosophin und SZ-Autorin Carolin Emcke ihn in ihrer Friedenspreisrede, siehe SZ vom 24. Oktober).

Künstler führen diese Debatte in ihren Bildern seit jeher. Jede Generation an Malern der alten Zeit stand von Neuem vor der Frage, wie sich denn Leiden und Tod Christi erklären ließen. Das muss ein Künstler ganz physisch herausfinden, im Aufeinanderprallen der Körper. Der geschundene Leib Christi trifft auf seine kraftvollen Peiniger, und es verbietet sich bei der Geschichte natürlich, zu den momentanen Siegern zu halten. Die Opferperspektive, die so oft bei Übergriffen aus dem Blick gerät, ist bei diesem Sujet von zentraler Bedeutung.

Viele Maler begründen die Hetze gegen Christus mit der aufgeheizten Stimmung im Lager seiner Gegner, mit einer Gruppendynamik der Verblendung. Deswegen ist der Bildausschnitt ungewöhnlich, den Tizian und Giorgione (oder nur einer von ihnen) auf einem Bild für die venezianische Kirche San Rocco wählten. Das kleine Gemälde zeigt keine Massenszene, sondern Christus und einen seiner Mörder in Nahsicht. Voller Vernichtungswillen wirft der Schächer seinem Opfer die Schlinge um den Hals, sein Hass ist spürbar bis in die Hautfalten seines angespannten Nackens. Er sucht Blickkontakt mit dem Todgeweihten, der aber ignoriert ihn und wendet sich in erstaunlicher Ausgeglichenheit den Betrachtern zu.

Als Person, das betont der Künstler, bietet Christus keinen Anlass für so viel Aggression. Er hat dem anderen nichts getan. Der Mörder aber sieht die sanften Züge, die milden Augen seines Gegenübers nicht. Obwohl er mit ihm schon auf Tuchfühlung ist, seinen Atem spüren könnte, erkennt er in ihm nur den gefährlichen Juden, der sich herausnimmt, ein Hoffnungsträger sein zu wollen, ein Mann mit neuen, fremden Ideen. Die mentale Projektion überlagert die sinnliche, persönliche Erfahrung. Fast könnte man meinen, der Hassende handele aus enttäuschter Liebe, aus irgendeinem Defizit heraus, das ihn verbittern ließ. Dafür aber kann der, den er hier nötigt, nichts. Der Maler des kleinen Bildes entschuldigt den Mörder nicht, schiebt die Verantwortung nicht Gott zu. Er macht aus der Szene einen politischen Akt, ausgetragen zwischen zwei Menschen.

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