Spurensuche:Das Nein in den Augen

Tarquinius und Lucretia, Tizian

Tizian malt in den Jahren 1568 bis 1571 Tarquinius, der Lucretia bedroht.

(Foto: The Fitzwilliam Museum)

Mit seinem Gemälde "Tarquinius und Lucretia" schlägt sich Tizian klar auf die Seite eines Vergewaltigungsopfers.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Sex und Gewalt haben bei Tizian nichts miteinander zu tun.

Dachten Menschen der Vormoderne an sexuelle Gewalt, fiel schnell der Name Lucretia. Der Sage nach soll die verheiratete Römerin von dem Herrscher Tarquinius genötigt worden sein; er drohte, neben ihr auch einen Sklaven umzubringen, wenn sie sich ihm nicht ergebe. Den Doppelmord werde er aussehen lassen wie einen Ehebruch der Lucretia. Diese fürchtete um ihre Familienehre. Sie brachte sich nach ihrer Vergewaltigung lieber selbst um, woraufhin ihre Angehörigen aus Rache Tarquinius ermordeten.

Damit wurde sie zum Tugendvorbild der Frühen Neuzeit, eine Heroine der Unschuld. Einerseits. Andererseits spekulierten männliche Autoren der Renaissance gern über eine Mitschuld der Lucretia: Hat sie den Täter nicht gerade durch ihre Keuschheit und Schönheit verführt? Und hat sie sich wirklich aus Standhaftigkeit getötet, oder war der Grund nicht doch Scham über die Lust, die sie empfunden haben könnte? Der fundamentale Unterschied zwischen Vergewaltigung und Ehebruch war nicht jedem klar.

Einer aber führte seinen Mitmenschen klar vor Augen: Gewalt ist Gewalt und Sex ist Sex. Da gibt es nichts zu verwechseln. Der venezianische Frauenmaler und -kenner Tizian schreibt in einem Brief, er habe gemalt, wie Lucretia vergewaltigt werde. Tatsächlich unterscheidet sich das 1571 fertiggestellte Werk grundlegend von früheren Darstellungen, die gerne einen lüsternen Blick zwischen Lucretias Beine warfen. Tizian dagegen zeigt den Schrecken im Auge des Opfers, den Hass im Antlitz des Täters. Der schiebt sein nacktes Knie zwischen ihre Schenkel; sie hat nur ein geknülltes Tuch und einen gestreckten Arm, um sich zu schützen, auch vor den Blicken des Betrachters. Nackt, schön und geschmückt lehnt sie auf ihrem Bett - aber voller Widerwillen. Jeder, auch der Täter, sieht ihre Furcht, niemand kann dies ernstlich für eine erotische Situation halten. Das "Nein" der Frau ist nicht kokett, es ist nicht zweideutig, und der Mann hier ist kein armer Lüstling, sondern ein Krimineller. Schwer auszuhalten ist das Bild, weil wir, ähnlich wie der Junge links außen, zu Augenzeugen werden. Tizian verlangt eine Stellungnahme: Auf wessen Seite stehen wir, wen wollen wir schützen? Er hat seine Entscheidung getroffen: Rechts unten liegt ein Pantoffel Lucretias, auf ihm hat Tizian das Bild signiert. Seine Verehrung gilt der Frau in ihrer Verletzlichkeit. Ihre Schönheit verpflichtet sie zu nichts.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: