Spurensuche:Blaue Stunden

Spurensuche: Kurz vor seinem Tod malte Vincent van Goghs "An der Schwelle der Ewigkeit" (1890).

Kurz vor seinem Tod malte Vincent van Goghs "An der Schwelle der Ewigkeit" (1890).

(Foto: oh)

Wie sieht Altersarmut aus? Vincent Van Gogh machte sich kurz vor seinem Tod ein Bild von der Würdelosigkeit materieller Not.

Von Kia Vahland

Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen, die Menschen bewegen. Wir suchen in alten Filmen und Kunstwerken nach wiederkehrenden Motiven. Wie sieht Altersarmut aus? Van Gogh malte sie sich aus.

Die Ökonomie in Deutschland boomt, und doch fürchten etliche Normalverdiener den Abstieg. Das anhaltende Zinstief drückt auf die Lebensversicherungen, das Rentenniveau sinkt. Viele sorgen sich um ihren Lebensstandard wenn nicht heute, so doch in zwanzig oder dreißig Jahren. Das ist auch deshalb beunruhigend, weil die meisten Deutschen seit nun schon mehreren Generationen keine Vorstellung mehr von echter materieller Not haben. Wie sieht sie denn aus, die Altersarmut? Ja wohl nicht wie die reisefreudigen Rentner aus der Werbung und den ARD-Spielfilmen.

Die Antwort, die Vincent van Gogh im Jahr 1890 fand, fiel drastisch aus. In einer Armenküche sah er einen alten Mann namens Zuiderland. Der wurde das Modell für van Goghs Gemälde "An der Schwelle zur Ewigkeit". In seinem blauen, an der Schulter eingerissenen Arbeitsanzug wärmt sich Zuiderland an einem rot lodernden Kaminfeuer. Er reibt sich die Augen, stützt sein Gesicht auf die Fäuste, seine Züge erkennt man nicht. Die Ritzen des Dielenbodens laufen in einer aus den Fugen geratenen Perspektive nach hinten; es gibt keinen Halt in diesem Raum. Die Not des Mannes steigert van Gogh zu nackter Verzweiflung, zu einem keineswegs nur äußerlichem Unglück. Das Licht im hellen Hintergrund tröstet Zuiderland nicht.

Der Maler orientierte sich bei seiner Darstellung des armen Greises weniger an älteren Gemälden als an den damals modernen Medien. Wie der Kunsthistoriker Michael F. Zimmermann gezeigt hat, studierte van Gogh eifrig die illustrierte Presse seiner Zeit, etwa die Holzstiche und Lithografien Hubert von Herkomers mit Szenen der Armenfürsorge. Van Gogh bewunderte die Wirklichkeitsnähe der Illustrierten, in einem Brief erwähnt er Herkomers Arbeiten und wünscht sich, diese nachempfinden zu können. Doch seine Malerei war den Zeitschriften nicht einmal ähnlich. Van Goghs Pinsel führt ein so tiefes Mitgefühl, dass über alle Epochen gültige Bilder entstanden, die das Menschliche an sich berühren. Armut ist bei van Gogh gefährlich, weil sie die Würde antastet.

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