Sprache:Als sollte Sprechen überhaupt reduziert werden

Leseprobe

Starke Worte - falscher Sinn: Viele heute gebräuchliche Begriffe haben eine erstaunliche Wandlung hinter sich. Fallstudien erhellen und entblößen die Sprache der Politik.

Von Jens Grandt

Die redegewandten Stellwerker an den Hebeln der Macht sind irritiert. Ihre An- und Durchsagen werden zunehmend misstrauisch wahrgenommen. Schall und Widerhall der Parteien kommen kaum noch zur Deckung. Warum findet die Sprache der Politik - was heißt: die politische Sprache - immer weniger Anklang?

Ein Grund, neben Zweifeln an der Aufrichtigkeit mancher Wortgewaltiger, sind Tendenzen des krassen Sprachwandels durch Globalisierung und Ökonomisierung, Tendenzen auch des Kulturtransfers. Infolgedessen werden verstärkt neue Bedeutungen auf traditionelle Wörter übertragen. Das führt beim Rezipienten einerseits zum Auseinanderklaffen von Erfahrung und Erwartungen, die sich mit bestimmten Begriffen verbinden (Freiheit, Fortschritt, Demokratie), andererseits zum Kampf um die Deutungshoheit.

Ist sozial, was den Einzelnen in die Marktatomisierung zwingt?

In dieses Umfeld ist die vom Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung angeregte Publikation "Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte" einzuordnen. Begriffsgeschichte als Untersuchung des Bedeutungswandels von Ausdrücken hat in den letzten Jahrzehnten zu breiter Interdisziplinarität gefunden. Bis hin zur Diskursgeschichte und zu medialen Praktiken, die bestimmte Zwecke verfolgen. Nicht nur, aber besonders in der politischen Sprache ändert sich der Wortsinn manchmal innerhalb eines Dezenniums. Diesem Bedeutungswandel am Beispiel einzelner gebräuchlicher Wörter widmen sich 52 Autoren. Selten sind die "Miniaturen" über fünf Seiten lang, also gut anteilig lesbar. 52 Ankerwürfe ins historische Sediment, überdeckt von lebhafter Infiltration des Gegenwärtigen.

Der Sinn beispielsweise dessen, was als "sozial" bezeichnet wird, hat sich über die Jahrhunderte mehrmals verändert. Vom lateinischen "socialis" ausgehend bedeutete es ursprünglich nur "die Gesellschaft betreffend". Ironie der Geschichte: Nach einer Phase ausufernder politischer Zuschreibungen ist das Adjektiv in seiner wertfreien Bedeutung wiedergekehrt in der Rede von den "sozialen Netzwerken". Clemens Knobloch vertritt die These, dass die Politisierung des "Sozialen" in den Konflikten der kapitalistischen Industrialisierung um 1900 ihren Ursprung hatte, als Verarmung, Landflucht, gesundheitliche Defizite im Schlagwort der "sozialen Frage" eine Adresse fanden.

Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung lädt sich "sozial" mit der Vorstellung von Gerechtigkeit auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Chiffre durch ständigen Missbrauch zu einem inhaltslosen Kompromisswort. Dann, mit dem neoliberalen Umbau des Wohlfahrtsstaates, kippt der ausgleichende Bedeutungskern. Seitdem gilt in der Sprache - und den Handlungen - der Politik nicht mehr das gesellschaftlich und rechtlich Verbindende als sozial, sondern "paradoxerweise just die Maßnahmen, die den Einzelnen in die Marktatomisierung zwingen", schreibt Knobloch.

In der politischen Sprache geht es um die Funktion eines Begriffs, nicht um dessen Bedeutung. Verkündungen vom "Mainstream" dienen dazu, eine Konsensfiktion herzustellen. "Der vorgetäuschte, eingebildete oder reale ,äußere' und/oder ,innere' Feind ... soll nur allzu häufig von jenen eigentlichen Problemen ablenken, die als herrschaftsbedrohend angesehen werden", schreibt Wolfert von Rahden. Er macht das an der "Alternative" deutlich. Bezeichnet das Wort seiner Bedeutung nach stets zwei Optionen, zwischen denen gewählt werden kann, wurde der Begriff von der Schröder-Regierung und von Angela Merkel entschärft. Politik als "Kunst des Möglichen" im Sinne von Bismarck ist out. Das Diktum "Es gibt keine Alternative" hat politisches Handeln zu einer bloß technokratischen Verwaltung von Sachzwängen verkürzt. Rahden: "Diese Entscheidungslogik gehört eher in den Kontext autokratischer, nicht aber demokratischer Systeme."

Auch der Begriff der Humanität ist seit den Jugoslawienkriegen kompromittiert

Der aktuelle Sprachwandel äußert sich in einem Schrumpfen des Zukunftshorizonts, wie an den Begriffen "Utopie", "Weltanschauung", "Dialektik" nachgezeichnet wird, am Durchmarsch der Marktideologie, der Bevorzugung des Individuellen und in moralisierenden Tendenzen, wo harte Fakten für sich sprechen.

Auch der Begriff der Humanität ist spätestens seit den Jugoslawienkriegen kompromittiert. Im 20. Jahrhundert hat sich die Unmenschlichkeit im Namen der Menschlichkeit entfaltet. Dass eine solche Umdeutung der Begriffe nicht von jedem nachvollzogen wird, kann nicht verwundern. An den Beispielen wird deutlich, dass die Sprache der Politik dem Leser oder Hörer ein Überdenken der Begriffe abverlangt, ein "Übersetzen" in das, was sie beinhalten, und in das, was gemeint und beabsichtigt ist.

Was wie benannt wird, kann auch zu einem realen Faktor mit vernichtenden Folgen werden. Begriffsgeschichte und Begriffspolitik sind nicht zu trennen. Bedauerlicherweise aber wird das nirgends gelehrt.

Im letzten Kapitel entwirft Gerd Irrlitz ein frustrierendes Bild vom kommunikativen Zustand unserer Gesellschaft, geprägt von digitalen Worthülsen, "regierungskonformen Sprachschablonen" und "Denklinien". "Als sollte Sprechen überhaupt reduziert werden ..." Dass junge Leute ihre Eventkultur mit einer "heiteren Durchschnittlichkeit" betreiben und daraus eine neue Qualität von Kommunikation erwachsen könne, nämlich der universellen Vergesellschaftung, bleibt vorerst eine schöne Hoffnung.

Falko Schmieder, Georg Toepfer (Hrsg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2017. 328 Seiten, 26,90 Euro.

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