Speichellecker:Schmachvolle Perücke

An dem üblen Schmeichler Alessio Interminelli aus Lucca exekutiert Dante eine sehr besondere Strafe. Zum Zuge kommt im achtzehnten Gesang der "Commedia" die Essenz vom anderen Leibespol.

Von Burkhard Müller

Außer den Foltergeräten im engeren Sinn finden sich in Dantes Inferno auch eher passiv-formlose Qualsubstanzen: Schlamm, kochendes Blut, brodelnder Teer, wie man ihn im Arsenal von Venedig zum Kalfatern der Schiffe verwendet. Bei ihrem Einsatz läuft die Fantasie des Dichters zur Hochform auf, sind die meisten doch von hinlänglich zäher Konsistenz, dass man die Sünder eintunken kann, bis zum Mund oder bis zu den Brauen, fein abgestuft je nachdem.

Bei einem dieser vielfältig viskosen Stoffe jedoch erstaunt der Leser, aus dem Munde des erhabenen Sängers davon zu hören: der Scheiße. Wirklich und wahrhaftig genau dieses Wort, wie es im umgangssprachlichen Italienisch bis heute üblich ist: la merda. "Di merda lordo", von Scheiße schwer, darf das Haupt des solcherart Bestraften heißen.

Sonst gehorcht die Verdammnis bei Dante gern dem Prinzip der Spiegelstrafe; Gewalttäter zum Beispiel werden in Blut getaucht, Spalter des Glaubens ihrerseits halbiert. Bei den Speichelleckern im achtzehnten Gesang aber musste der Speichel der Essenz vom entgegengesetzten Leibespol weichen. Solchen Leuten bedeutet es ja nichts, angespuckt zu werden. Da müssen Schmach und Ekel schon kräftigere Register ziehen.

Bei den Strafen der Speichellecker kommt die Essenz vom anderen Leibespol zum Zuge

In diesem, speziellen Höllenkreis begegnet Dante, der viel persönlichen Groll ins Jenseits hinüberträgt, offenbar einem besonderen Feind: einem, so denkt sich der Leser, der ihm, vielleicht nicht das Schlimmste, aber etwas in seiner beschämenden Eigenart ganz und gar Unverwindbares angetan hat. "Was gaffst du denn gerade mich so an und nicht die andern Schweine?" ruft dieser, als Dante seinen Blick auf ihm ruhen lässt. Und Dante erwidert: "Weil ich dich, wenn mich nicht alles täuscht, schon einmal gesehen habe, aber mit trockenen Haaren: du bist Alessio Interminelli aus Lucca."

Aber mit trockenen Haaren! Dante zählt sonst eher zu den humorlosen Dichtern. Aber das Bedürfnis nach einer extra subtilen Rache an Signor Interminelli treibt ihn hier doch in den Witz hinein, in einen grimmigen Witz, der das Beste ist, was sich geistig mit der stumpfen Materialität des Exkrements bewerkstelligen lässt.

Dieser eine Gesang der "Göttlichen Komödie" hat tatsächlich Züge von dem, was auch wir heute unter einer Komödie verstehen. So komplett in der Tat umhüllt la merda Signor Interminellis Kopf, "dass sich nicht sagen ließ, ob er Laie oder Kleriker war". Einem mittelalterlichen Leser, der die unmittelbare Anschauung des zugrunde liegenden Sachverhalts besaß, musste dieser Witz nicht erklärt werden. Dem heutigen Leser leider schon; das raubt ihm einiges von seiner komischen Kraft, jedoch nicht alles. Also: Im Mittelalter trugen die Kleriker Tonsur, das heißt eine große Zentralglatze, umringt von einem verbliebenen Haarkranz; das eben schied sie vom Laien. Die Ununterscheidbarkeit von Laie und Kleriker bedeutet in dieser boshaften kleinen Fantasie mithin nichts anderes, als dass besagter Signor Interminelli nicht nur etwa ein Toupet, nein, vielmehr eine Vollperücke aus Kot trägt, "wie er aus menschlichen Abtritten zu stammen schien", "uno sterco che dalli uman privadi parea mosso". Hier spricht der Kenner.

Wie wirkt dieser Scherz auf uns heute? Wir sollten uns die Klassiker nicht allzu sehr als gute oder gar vorbildliche Menschen denken. Doch die Größe ihres Werks verschafft ihnen den Anspruch, dass wir auch das Fragwürdige, das Abgründige, das gröblich Geschmacklose daran mit in Kauf nehmen müssen, ja selbst die gehässigen Züge. Mitbewundern müssen wir sie nicht.

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