Spanien/Katalonien:Sehnsucht nach der Mutter

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Für die Schriftstellerin Bel Olid war Europa lange die strenge Lehrerin mit dem großen Herzen. Aber sie habe nicht richtig zugehört.

Von Bel Olid

Ich sehne mich zurück nach der Zeit des Heranwachsens. Alles war Hoffnung und Zutrauen. Ich sehne mich nach diesem Gefühl, dass ich die Welt verändern kann, ach was, dass ich sie ganz bestimmt verändern werde. Ja, danach sehne ich mich wirklich.

Ich bin direkt nach Francos Tod auf die Welt gekommen, in einem armen Viertel in einer mittelgroßen Stadt in Katalonien. Dort bin ich auf eine staatliche Schule gegangen. Wir kamen alle aus Migrantenfamilien, Kinder und Enkel von Andalusiern, die nach Barcelona, Cornellà, Mataró gegangen waren, weil sie dort auf eine bessere Zukunft gehofft hatten. Ja, wir würden diese bessere Zukunft haben, versicherten uns unsere begeisterten Lehrer. Wir würden ein Teil Europas werden - Europa, könnt ihr euch das vorstellen! -, nicht mehr der dreckige arme Norden Afrikas, sondern der Süden des prosperierenden, demokratischen Europa!

1985, ich war sieben, wurde Spanien in die EU aufgenommen. Es war Sommer, und im Fernsehen lief dauernd ein sehr dummes Lied. Ich kann mich noch an die Melodie erinnern, an den Text, sogar an die Kleidung der Sänger: "Wir sind jetzt Europäer. Es wird nicht leicht werden, wir müssen Europa beweisen, dass wir hart arbeiten können." So ging das Lied.

Europa, die strenge Lehrerin mit dem großen Herzen. Die Erwachsenen tranken Champagner in diesem Sommer und prosteten der wunderschönen Zukunft zu, die uns alle erwartete.

Ich war eine gute Studentin. Ich lernte alle Länder des Kontinents auswendig. Die Namen, die Hauptstädte, ihre Farbe auf der Landkarte. Und mein eigenes Land. Kein Name. Keine Farbe. Nur das spanische Gelb, das uns versteckte. Das nicht vorhandene Barcelona, verdeckt vom Schatten Madrids. Ich fragte mich, welche anderen Länder von der Farbe eines anderen Landes überdeckt wurden.

Ich freute mich auf eine größere Landkarte, auf der Farben nicht wichtig waren

1992. Ich war 14 Jahre alt, als Barcelona Gastgeber der Olympischen Spiele war. Es war Sommer, und dauernd lief dieser Song, den ich so liebte. Eine katalanische Opernsängerin und ein sehr schwuler britischer Rockstar priesen meine Stadt. Das war damals Europa für mich, ein Ort, an dem ich existieren konnte, wo jeder seinen eigenen Platz hatte. Eine größere Landkarte, bei der Farben nicht wichtig waren.

Ich war eine gute Schülerin. Ich habe Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch gelernt. Ich bin herumgereist und habe andere Europäer kennengelernt. Echte Europäer, so dachte ich. Die meisten von ihnen wussten gar nicht, das ich eine eigene Sprache habe, aber sie alle konnten ein, zwei Wörter auf Spanisch. Einige hatten sogar schon mexikanische Hüte auf den Ramblas in Barcelona gekauft und hatten keine Ahnung, was daran falsch war.

Europa, die strenge Lehrerin mit dem großen Herzen, wusste nicht viel von uns.

Schon in Ordnung, wollten wir antworten. Wir wollten erklären, dass wir Flüsse mit wunderschönen Namen haben, und dass unsere Berge, auch wenn sie nicht riesengroß sind, doch bitte auf den Landkarten gezeigt werden sollen. Und wie sehr wir uns wünschen, dass unsere eigene Farbe sich mit dem Blau der europäischen Fahnen mischen darf.

All das haben wir mehrere Jahre erklärt, gute Schüler, die wir sind. Schön die Hand heben, bevor wir uns zu Wort melden. Aber ich merke, ich wollte gar keine Lehrerin mit weichem Herzen. Im Grunde wollte ich eine Mutter, die mich beschützt, die gerecht ist und warmherzig. Ich wollte die Mutter, die Spanien nie war.

Aber Europa scheint nicht wirklich zuzuhören. Europa stellt sich taub. Ist dein Problem, sagt es. Kommt schon, Kinder, hört auf zu streiten. Seid nett, ich hab schon genug Probleme.

Und jetzt wachsen meine eigenen Kinder heran. Sie sind voller Hoffnung und Zuversicht. Ich versuche ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie die Welt verändern können. Dass sie sie verändern werden. Ich hoffe, dass sie das schaffen. Ich hoffe es für uns alle.

Bel Olid, 1977 in Mataró geboren, ist Präsidentin des Katalanischen Schriftstellerverbandes AELC. Zuletzt erschien von ihr die Kurzgeschichtensammlung "La mala reputació".

Deutsch von Alex Rühle

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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