Soziale Folgen der Finanzkrise:Furcht vor dem Niedergang

Die Antworten auf die Frage, wer die Schuld an der Finanzkrise trägt, werden schon bald über den sozialen Frieden in den westlichen Gesellschaften entscheiden - und über Zusammenhalt oder Zerfall der EU. Denn es gibt Verlierer. Und diese waren schon immer das Dynamit demokratischer Systeme.

Gustav Seibt

Aus den Schulden wird jetzt schon Schuld - die Schuld an einem sich entweder in langen Nervenpartien hinziehenden, dann aber krachenden Desaster oder auch nur an seiner unendlich mühsamen, kräftezehrenden Abwendung. Die Zeit der Schuldzuweisungen hat längst begonnen. Finanzmärkte, Ratingagenturen, Pleitestaaten, der Kapitalismus überhaupt, Gesellschaften, die über ihre Verhältnisse leben, Osama bin Laden, der Amerika in ruinöse Kriege lockte, die Steuerpolitik der Neocons, das billige Geld Greenspans seit der Clinton-Ära: All das sind Kandidaten für eine Schuld, die den Wohlstand des Westens so ernst bedroht wie nichts anderes seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Griechenland-Hilfe

Die Statue der griechischen Göttin Athene ist nach Ausschreitungen in Rauch eingehüllt. Wutbürgerschaft kann zu einer kontinentalen Erscheinung werden.

(Foto: dpa)

Die Antworten, die auf die Frage gegeben werden, wer die Schuld an der Krise trägt, werden schon bald über den sozialen Frieden in den westlichen Gesellschaften und auch über Zusammenhalt oder Zerfall der Europäischen Union entscheiden. Denn es gibt Verlierer, und es wird noch weitere geben, und Verlierer waren schon immer das Dynamit demokratischer Systeme, die auf einem heiklen Gleichgewicht von politischem Streit und Konsensfähigkeit beruhen. Wenn dieses Gleichgewicht gestört ist, wie derzeit in den USA, aber auch in Griechenland, können ökonomische Krisen vollends unbeherrschbar werden.

Die Antwort auf die Frage nach der Schuld betrifft also nicht nur künftige Geschichtsschreibung, sondern sie hat unmittelbaren Einfluss auf den Ausgang der ökonomischen Krise, die längst zu einer politischen geworden ist. Nie war es so wichtig, aber auch so schwer, den naheliegenden Affekt der Wut zu vermeiden, diesen Treibstoff aller Schuldzuweisungen - denn Schuld, das liegt nun einmal in der menschlichen Natur, haben ja in der Regel die anderen.

Die Wahrheit ist aber: Als Teilhaber und Nutznießer einer vom Kredit befeuerten Wirtschaft und beispiellos ausgebauter Sozialstaaten - das eine mehr in Amerika, das andere in Europa -, haben natürlich alle Konsumbürger der westlichen Wohlstandszone ihren Anteil an der Aufblähung jener Schuldenmassen, die jetzt das Vertrauen der Gläubiger so weitflächig zusammenbrechen lassen, dass ein systemischer Kollaps droht. Schulden aber sind im Gegensatz zu Aktienkursen mit ihren riesigen, irrationalen Schwankungen, echtes, nämlich bereits ausgegebenes Geld. Für die Schulden der westlichen Welt wurde etwas gekauft: Dienstleistungen, Waren, Güter, Infrastruktur. Echtes Geld ist transformierte Arbeit. Für Schulden wurden erarbeitete Leistungen erworben - gestern und heute, während die reale Bezahlung auf die Zukunft verschoben wurde.

Schulden sind also in gewisser Hinsicht nicht nur ein notwendiger Treibstoff der Ökonomie - als Kredit -, sondern, wenn sie nicht mehr bedient werden können, ihr Giftmüll. Man kann sie nicht einfach "streichen", "erlassen" und dann auf Neustart gehen. Das Furchtbare an Schulden ist, dass sie notwendigerweise immer bezahlt werden müssen, die Frage ist nur, von wem. Normalerweise, so die wichtigste Grundlage einer Wirtschaft jenseits des reines Gütertausches, vom Schuldner. Nur ist in abstrakten Verhältnissen nicht immer klar feststellbar, wer der eigentlich haftungspflichtige Schuldner ist: Schon ob man von "Staaten" (gern "Pleitestaaten") oder von "Steuerzahlern" spricht, schiebt das Problem hin und her.

Bequeme Legenden

Aber ein triviales Gesetz gilt immer, die Schulden, die man nicht selbst bezahlt, bezahlen dann andere: bei Staatsschulden, von den wir gestern gut lebten, beispielsweise die künftigen Bedürftigen, die für Sparmaßnahmen bluten müssen, oder die Allgemeinheit insgesamt, deren Geld entwertet wird (was wiederum vor allem die Ärmeren trifft). Oder man lässt Kreditinstitute zahlen; das aber heißt nicht, dass jetzt "die Banken" (derzeit also die Bösen) die Zeche übernehmen, sondern alle die, die dort Einlagen gemacht haben, also durchaus Leute wie du und ich.

Inzwischen ist es leider wieder nötig, dermaßen einfache Dinge zu sagen. Denn es etablieren sich unübersehbar die bequemen Legenden, die Schuld und Schulden immer den anderen zuweisen. Dabei wäre es angezeigt, den Wirtschaftswissenschaftlersatz von den Verhältnissen, über die "wir" gelebt haben, in eine möglichst kleinteilige Wirklichkeit zurückzuübersetzen.

Auch eine Rentnerin, die fast nichts für ein langes Berufsleben bekommt, kann, so bitter das ist, dazu beitragen, dass ein Sozialsystem über seine Verhältnisse lebt: Wenn nämlich, wie jetzt schon, der Rentenkasse die jüngeren Einzahler ausgehen. Mitleiderregend ist die Rentnerin als Einzelschicksal; wenn aber eine junge Familie, mit zwei Kindern in der Ausbildung, künftig auch noch zwei oder drei oder gar fünf solcher beklagenswerten alten Frauen mitfüttern muss (die sie persönlich gar nicht kennt), dann stellt sich schon die Frage, wer eigentlich mehr zu bedauern ist.

Ebenso problematisch sind Parolen wie die, Banken rette man, während Schulen verfallen und Schwimmbäder teurer werden. Denn Banken werden ja nicht aus Mildtätigkeit gegen den Beruf des Bankers gerettet, sondern weil an ihrem Funktionieren unser aller Konsum, Zahlungsfähigkeit, ja Handlungsfähigkeit in einer global vernetzten, abstrakten Wirtschaftsweise hängt. Dass man schuldhaftes, leichtfertiges, asoziales Bankenverhalten sanktionieren muss, dass Kosten zu ihrer Rettung, wie jetzt in den USA, zurückgeholt werden sollten, ist davon ganz unberührt.

Das Problem Schulden und Schuld wird also zu einem riesigen, kaum noch überschaubaren Feld von Rechnungen und Gegenrechnungen, die fast beliebig instrumentalisierbar sind. Der Kampf um die Lösung der Krise ist längst auch zu einem semantischen Schlachtfeld geworden.

Für die Politik stellt sich in dieser Lage nicht nur die Aufgabe, das Problem materiell zu lösen - also das Funktionieren des Systems aufrechtzuerhalten und neu zu stabilisieren -, sondern die nicht weniger wichtige, ihre Lösungen argumentativ - also vor allem unter den Gesichtspunkten der "Gerechtigkeit" - akzeptabel zu machen. Bisher ist ihr außer dem Dauerbrenner der "Alternativlosigkeit" dazu nicht viel eingefallen; auch er aber enthält schon eine Schuldzuweisung, denn sein Klartext lautet ja: Wir werden erpresst.

Sozialpsychologische Folgen

Dabei wurden die wichtigsten Grundlagen der aktuellen Krise in langen Jahren vor allem in den Staatshaushalten gelegt. Auch Staatsschulden sind ja reales, ausgegebenes Geld, ausgegeben nur zu einem Bruchteil für Politiker, in der Masse aber für jene Wähler, von denen sie abhängen. Wahrlich eine einfache Wahrheit! Aber gelegentlich muss sie wieder ausgesprochen werden, um ein bedrohliches Klima von Schuldzuweisungen zu entschärfen. Den Weg, den jetzt Ungarn versucht, nämlich frühere Regierungschefs für ihre Schuldenpolitik strafrechtlich zu verfolgen, mag kurzfristig seelische Entlastung bringen, gelöst wird damit kein einziges Problem.

Und so müssen beispielsweise auch Euro-Anleihen nicht nur nach ihrer ökonomischen Funktionalität bewertet werden, sondern auch nach ihren politischen, nämlich sozialpsychologischen Auswirkungen. Dabei aber können sie sich als Sprengsätze des Völkerhasses erweisen. Denn die Zahler, für die sich die Kreditbedingungen verschlechtern, können leicht den Eindruck haben, sie zahlten für den diskreditierten italienischen Ministerpräsidenten, der mit Steuergeschenken sein politisches Überleben sichern will; während die Gewinnerländer die mit Eurobonds verbundenen Rigiditätsforderungen zweifellos als Diktate herrischer Großstaaten erleben dürften. So kann Wutbürgerschaft zu einer kontinentalen Erscheinung werden.

In der historischen Fernsicht erweist sich, dass man in den westlichen Wohlstandsländern unter dem Eindruck eines jahrzehntelangen Nachkriegswachstums aufgehört hatte, das Schuldenmachen überhaupt ernst zu nehmen. Dass Schulden, gar ein Staatsbankrott, wie in Frankreich vor 1789, Revolutionen auslösen können, war in Vergessenheit geraten, ebenso der Umstand, dass auch der Krach von 1929 im Kern auf eine Schuldenkrise zurückging.

Diese Leichtfertigkeit können sich alternde und schrumpfende Gesellschaften, wie es vor allem die europäischen sind, nun nicht mehr leisten. Die Schuldenkrise konfrontiert uns zum ersten Mal mit unserem Niedergang.

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