Skandal um erfundene Memoiren:Enthüllung, aber die falsche

Mit 14 bekam sie ihre erste Waffe, vom ersten eigenen Geld kaufte sie sich ein Grab... nein, doch nicht. Sogar die New York Times ist auf die erfundenen Memoiren eines angeblichen Mädchengang-Mitglieds hereingefallen.

Thomas Schuler

Anfang März veröffentlichte Margaret B. Jones ihre Erinnerungen an ihr hartes junges Leben. Das Mädchen wurde als Kind missbraucht, wuchs bei wechselnden Pflegefamilien in South Central auf, der schlimmsten Gegend von Los Angeles. Margaret B. Jones zog mit einer Plastiktüte, in der ihr ganzer Besitz war, umher, bis sie mit achteinhalb Jahren bei "Big Mom" landete, einer schwarzen Pflegemutter. Dort blieb sie und schloss sich den Bloods an, einer der unzähligen Jugendgangs, die sich gegenseitig bekämpfen.

Skandal um erfundene Memoiren: "Love and Consequences" - der Jubel der Feuilletons stellt sich nun als voreilig heraus.

"Love and Consequences" - der Jubel der Feuilletons stellt sich nun als voreilig heraus.

(Foto: Foto: Amazon)

Als weiß-indianischer Mischling unter Schwarzen hatte sie keinen leichten Stand. Sie handelte als Kind mit Drogen und kaufte sich von ihrem ersten Geld ein Grab - Kinder in South Central glauben nicht ans Leben. Sie landen früh im Gefängnis oder sterben jung durch Gewalt, so auch zwei ihrer vier Pflegegeschwister: der Halbbruder durch eine rivalisierende Gang, eine Halbschwester brachte sich selbst um. Der Umgang mit Waffen war Margaret früh vertraut. Zum 14. Geburtstag hatte sie ihre erste Waffe geschenkt bekommen.

Aber die Geschichte von Margaret B. Jones endet nicht in South Central: Sie verliebte sich in einen Mann aus einer rivalisierenden Gang und durchbrach die Schranken der Gangs. Sie ging aufs College, besuchte die Universität und lernte literarisches Schreiben. Durch das Schreiben schaffte sie den Ausstieg, als einziges von Tausenden Mitgliedern einer Gang, wie sie in einem Interview versicherte. Ein Professor empfahl sie an eine Buchautorin, deren Agentin sie an Riverhead Books des renommierten Verlags Penguin vermittelte.

Berichte von ehemaligen männlichen Gangmitgliedern gibt es bereits. Erstmals schrieb nun eine Frau über ihre Vergangenheit in einer Gang und berichtete von einer Welt, in der es trotz aller Gewalt große Gefühle und echte Liebe gibt. Um ihre Erlebnisse und Erfahrungen aufzuschreiben, erhielt sie fast 100.000 Dollar Vorschuss für ihr Erstlingswerk. Drei Jahre lang arbeitete sie daran. Als das Buch unter dem Titel "Love and Consequences" im März erschien, wurde es im Buchclub von Fernsehtalkmasterin Oprah Winfrey gleichermaßen hochgelobt wie im Feuilleton der New York Times ("menschlich und tief bewegend", "literarisch", "bemerkenswert") und die Zeitung brachte sogleich ein großes Porträt der Autorin mit Bild.

Aber es dauerte nur einen Tag und die Geschichte von Margaret B. Jones war zu Ende. Eine ältere Schwester meldete sich bei der Zeitung und sagte den erstaunten Redakteuren, dass die hochgelobte Autorin ihre ganze Geschichte frei erfunden habe. In Wirklichkeit sei sie nicht halbindianischer Abstammung und bei wechselnden Pflegeeltern, sondern wohlbehütet bei ihren biologischen (weißen) Eltern im San Vernando Valley aufgewachsen. Mittelklasse statt Ghetto. Sie sei auf eine christliche Schule gegangen und habe nie die Universität in Oregon besucht, wie sie behauptete. Und ihr Name laute nicht Margaret B. Jones, sondern Margaret Seltzer.

"Persönlicher und professioneller Verrat"

Mit diesen Fakten konfrontiert, legte die 33-jährige Autorin gegenüber der New York Times unter Tränen ein Geständnis ab. Sie habe ihre persönliche Geschichte völlig frei erfunden, sagte sie. Allerdings beruhten viele Details auf den Erfahrungen enger Freunde, die sie über Jahre bei ihrer Arbeit mit Jugendgangs kennen gelernt habe, sagte sie: "Aus welchen Gründen auch immer war ich zerrissen und glaubte meine Gelegenheit gekommen, Menschen, denen niemand zuhört, eine Stimme zu geben." Ein Autorenhinweis wies Leser allerdings lediglich darauf hin, dass Jones/Seltzer Personen kombiniert, Namen geändert und Zeit und Ort teilweise geändert habe. Das Ausmaß der Erfindungen ließ sie unerwähnt.

Der Verlag rief 19.000 Bücher zurück und bietet Käufern Rückerstattung des Kaufpreises an. Die Lektorin Sarah McGrath warf ihrer Autorin "großen persönlichen und professionellen Verrat" vor. Sie und ihre Verlagsmitarbeiter hätten viel Zeit in diese Geschichte investiert und gedacht, sie würden "etwas Gutes tun", indem sie diese Geschichte an die Öffentlichkeit bringen. Die Lektorin machte die Autorin nach eigenen Angaben in zahlreichen Gesprächen immer wieder darauf aufmerksam, dass sie bei der Wahrheit bleiben müsse.

Den entsprechenden Passus im Buchvertrag, die Wahrheit zu schreiben, unterzeichnete die Autorin, als sei das eine Selbstverständlichkeit. Für den Erfolg, so sagt die Lektorin heute, seien die Fälschungen eigentlich unnötig gewesen. Das Buch hätte auch ohne die Erfindungen eindrucksvoll werden können. Was heißen kann: als Roman oder als recherchierter Tatsachenbericht. Eine Erkenntnis, die zu spät kommt.

Vertrauen, das man nicht durch Fragen zerstören darf

In Zeitungs- und Verlagskreisen diskutiert man nun, ob dieser Fälschungsfall vom Verlag vor der Veröffentlichung hätte entdeckt werden müssen. Fest steht: Margaret Seltzer unternahm Einiges, um ihre Agentin und den Verlag zu täuschen: Sie zeigte der Lektorin Fotos ihrer angeblichen Pflegegeschwister, den angeblichen Brief eines Gangleaders, der ihre angebliche Geschichte bestätigte, und stellte ihrer Agentin eine angebliche Halbschwester vor. Sie erfand sogar eine Stiftung, die sich in Los Angeles angeblich um Gangmitglieder kümmerte, und sie baute dafür eine Website. Auf das Pseudonym einigte man sich, weil sie unter diesem Namen angeblich bei den Gangs bekannt gewesen sei - auch das eine Erfindung.

Allerdings hat sich die Lektorin in den drei Jahren nie mit ihrer Autorin getroffen und nie versucht, ihre Biografie und einige ihrer zentralen Aussagen zu verifizieren. Während Zeitschriften wie das New York Times Magazine und der New Yorker eigene Abteilungen für Fact checking unterhalten und mit viel Aufwand und hohen Kosten Fakten prüfen, behaupten Buchverlage, ihr Geschäft beruhe auf dem Vertrauen zum Autor, das man nicht durch Fragen und Zweifel zerstören dürfe.

Auf der nächsten Seite zeigt sich, dass Margaret B. Jones alias Margaret Seltzer beileibe nicht die Einzige ist, die solche Täuschungen in die Medien bringt.

Enthüllung, aber die falsche

Auffällig ist: Jeder Fälschungsfall ist ein Einzelfall und doch gleichen sich die Erfindungen von angeblich "wahren Geschichten", auf die amerikanische Medien und Journalisten immer wieder hereinfallen. Margaret Seltzers Geschichte gleicht der des Autors James Frey, dessen Bericht "Tausend kleine Scherben" (Random House) von Drogensucht und seinem schmerzhaften Weg aus der Abhängigkeit handelt. Freys Erfindungen hatten die Buchbranche vor drei Jahren in Aufregung versetzt. Auch damals hatte Oprah Winfreys Buchclub Werk und Autor hochgepriesen.

Glauben, weil man glauben will

Es sind offenbar die immer gleichen "wahren" Geschichten, die die Sehnsucht danach befriedigen, sich neu zu erfinden. Sie wecken und befriedigen die Sehnsucht nach einer zweiten Chance in einem ungerechtem Leben, die Hoffnung auf den American Dream. Diese "wahren" Geschichten der Fälscher scheinen zu bestätigen, dass der Aufstieg allen möglich ist. Ähnlich war es bei der jungen, schwarzen Reporterin Janet Cooke, die in der Washington Post das Schicksal eines achtjährigen heroinabhängigen Jungen erfand und dafür den Pulitzerpreis erhielt. Oder beim jungen schwarzen Reporter Jason Blair, dem die New York Times lange seine Erfindungen durchgehen ließ. Man glaubte den Aufsteigern, weil man ihnen glauben wollte.

Ob Journalisten und Buchlektoren aus den Fehlern lernen können? Die New York Times wies ihre Redakteure inzwischen an, künftig keine Porträts von unbekannten Personen mehr zu bringen, die auf einer einzigen Quelle beruhten.

Genau das war im Fall von Margaret B. Jones alias Margaret Seltzer passiert. Zwar hatte der zuständige Redakteur gebeten, die Aussagen der Autorin durch Recherchen bei Dritten zu prüfen. Doch die Reporterin hatte dann angeblich keine weiteren Quellen finden können. Das hätte allerdings ein Alarmzeichen sein müssen. Der zuständige Redakteur, Tom de Kay, sagt, er habe sich darauf verlassen, dass ein renommierter Buchverlag Fälschungen in großem Ausmaß entdecken würde.

Einfache Nachfragen

Fraglich ist, ob Buchverlage ebenso zu lernen versuchen wie die New York Times. Bislang befriedigen sie die Sehnsucht, sich zu erfinden, allzu bereitwillig: James Frey wollte seine Geschichte eigentlich als Roman, also als fiktive Geschichte, herausbringen, sagte er damals der New York Times. Der Verlag Random House habe ihn aber dazu überredet, das Buch als "Memoir", als Erinnerungen und damit als wahr zu vermarkten. Frey ließ sich darauf ein. Erst später kam heraus, dass wahre Episoden fantasievoll erweitert waren. Bei Random House erinnert man sich allerdings anders: Frey selbst habe das Buch als "Memoir" vorgestellt.

Nan A. Talese, die Lektorin von James Frey, sagte der New York Times, die wiederholte Erfahrung mit Fälschungen könnte dazu führen, dass Verlagsleute ihre Autoren stärker dazu verpflichteten, wahrhaftig zu schreiben. Ob das hilft, ist zweifelhaft, denn sie sagte auch: "Ich glaube nicht, dass man jedes Buch auf Fakten prüfen kann. Das würde den Autor beleidigen und das Verhältnis zwischen Redakteur und Autor beeinträchtigen."

Die Washington Post, einst Opfer der Fälschung von Janet Cooke, lässt das nicht gelten. Wer einen fast sechsstelligen Buchvorschuss zahlt, der könne auch einen Mitarbeiter zahlen, um zentrale Aussagen zu prüfen. Bereits einige einfache Nachfragen hätten Seltzers Geschichte als gefälscht bloßgestellt, berichtet die Los Angeles Times. Die Zeitung betonte aber auch, die Sehnsucht, Margaret Seltzers Geschichte zu lesen, sei durch ihre Fälschung nicht geschwunden. "Diese Geschichte wollen wir nach wie vor lesen - nur das nächste Mal von jemandem, der sie gelebt hat."

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