Sherlock-Holmes-Forschung:Der schwierigste Fall

Es geht irgendwie auch um einen geheimnisvollen Amerikaner: Denn der Tod des Sherlock-Holmes-Forschers Richard Lancelyn Green wirft Rätsel auf.

SONJA ZEKRI

Der Tatort lud zu Spekulationen ein, vorsichtig ausgedrückt. Richard Lancelyn Green lag auf dem Bett seiner Londoner Wohnung umgeben von Sherlock-Holmes-Bildern, auf dem Tisch eine halb leere Flasche Gin, neben sich einen Holzlöffel und einen Schnürsenkel.

Sherlock-Holmes-Forschung: Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein - wie unwahrscheinlich es auch ist.

Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein - wie unwahrscheinlich es auch ist.

(Foto: Foto: AP)

Er war stranguliert worden. War es Mord? Als Mord getarnter Selbstmord? Eine Panne bei einem autoerotischen Experiment? Die Polizei ermittelte und mit ihr eine Gemeinde, die das Verbrechen bestens kennt. Richard Lancelyn Green war ein intimer Kenner Arthur Conan Doyles, Holmes' literarischem Vater. Greens Tod im vergangenen März - grausam wie der Moshammer-Mord, grotesk wie die Selbststrangulation des Abgeordneten Stephen Milligan, der 1994 nur mit Damenstrümpfen bekleidet gefunden wurde - warf mehr Fragen auf, als je ein Krimi gelöst hat. Elf Monate später ist die Verwirrung größer als am ersten Tag.

"Natürlich ist Richards Tod noch ein Thema. Und wahrscheinlich wird er es immer sein", schreibt R. Dixon Smith, britischer Verleger des Hauses Rupert Books und spezialisiert auf "Conan Doyle, Sherlock Holmes und Jack the Ripper", in einer E-mail: "Richard wusste mehr über Conan Doyle und Sherlock Holmes als jeder andere seit dem Tod Conan Doyles 1930." Auch auf dem diesjährigen Bankett des New Yorker Holmes-Clubs "Baker Street Irregulars" gab es nur ein Thema, berichtet der US-Verleger Otto Penzler: der Tod des "größten Wissenschaftlers auf diesem Gebiet und eines der feinsten Gentlemen".

Es war das Ende eines Lebens für Holmes. Mit zehn verfiel Green dem Mann in Tweed. Mit zwölf trat er der ehrwürdigen Londoner Holmes Society ein, baute in seinem Elternhaus den ersten Stock der 221B Baker Street nach - mit ausgestopfter Schlange, einer Spritze mit der von Holmes bevorzugten siebenprozentigen Kokain-Lösung und Einschusslöchern. In den folgenden vierzig Jahren schenkte der Millionär Holmes-Fans unter anderem die "Briefe an Sherlock Holmes", die gesammelten Schreiben an 221b Baker Street, und Doyleanern eine Standardbiografie und wurde schließlich selbst Vorsitzender der Holmes-Society. Green war dem Bösen in der Literatur so nahe gekommen wie kaum einer. Holmes war sein Leben. Aber war er auch sein Tod?

Bewiesen ist dies: Zuletzt arbeitete Green an einer dreibändigen Doyle-Biographie. Es sollte sein Opus Magnum werden, doch musste er dafür Conan Doyles Privatnachlass einsehen, der der Wissenschaft als Folge eines Erbstreits verschlossen war. Nach dem Tod von Jean Conan Doyle, der Tochter des Schriftstellers, hatte Green gehofft, diese werde die Dokumente der British Library vermachen. Dann der Schock: Der Nachlass werde bei Christie's versteigert, hieß es, und in Privatarchiven verschwinden. Green fühlte sich betrogen, ja verfolgt. Freunden habe er erzählt, ein geheimnisvoller Amerikaner sei ihm auf den Fersen, schrieb der New Yorker. Kurz darauf war er tot.

Vor kurzem legte die Gerichtsmedizin das Ergebnis ihrer Untersuchungen vor. Und alles wurde noch undurchsichtiger. "Es war ein offener Befund", sagt Olaf Maurer von der deutschen Holmes-Gesellschaft "221B", die jedes Jahr zu den Schweizer Reichenbach-Fällen reist, wo Holmes gestorben war. Nach den Forensikern hätte es Mord sein können, Selbstmord, oder eben eine erotische Panne. "Natürlich lässt das Raum für Spekulationen", so Maurer: "Anfangs hieß es ja, Green sei inmitten von Plüschtieren gefunden worden. Das hat was."

Otto Penzler schließt nach Prüfung aller Beweise die autoerotische Variante aus: "Um es deutlich zu sagen", schreibt er: "Seine Hose war zu." Und Selbstmord? Green sei klinisch depressiv gewesen, so Dixon Smith, "jahrelang schien er der erste Anwärter für Selbstmord zu sein." Wieso aber hatte Penzler bei einem Gespräch zwei Tage vor dessen Tod den Eindruck, dieser klinge "so fröhlich wie immer"? Nach Penzlers Gefühl jedenfalls "hätte er niemals Selbstmord begangen". Und hatte nicht Sir Colin Berry, Präsident der British Academy of Forensic Sciences, ausgesagt, er habe in seiner dreißigjährigen Laufbahn nur einen einzigen Fall von Selbststrangulation erlebt? Und der vorliegende sei zudem mit einem dünnen Schnürsenkel ausgeführt worden, nicht mit einem Seil... Also doch ein Verbrechen? Das wiederum glauben auch nur wenige.

Professor Owen Dudley Edwards beispielsweise, der im New Yorker zu Protokoll gab: Es war Mord. Und damit Dixon Smith ziemlich auf die Palme bringt: Es gebe kein Verbrechen und "keine Geheimnisse. Und es gab nie einen ,geheimnisvollen Amerikaner'". Dass Greens "Verfolger" ein Holmes-Forscher war, der im Pentagon arbeitet, Jon Lellenberg heißt und nur durch seinen Job noch spleeniger wirkt als der Rest der Zunft, das habe in der Branche jeder gewusst.

Also ganz anders. Kühn fahnden die verwaisten Holmes- und Green-Fans in der Grauzone zwischen Belletristik und Verbrechen. Vielleicht, so liest man in den Chatrooms, hat Green sein Ende als Doyle-Story inszeniert. In "Das Problem der Thor-Brücke" liegt eine Frau tot auf eben dieser, erschossen aus kurzer Distanz. Als Hauptverdächtige gilt die Gouvernante, die ein Verhältnis mit ihrem Gatten hatte. Eine Schramme in der Brücke lässt Holmes stutzen: Die Tote, so schließt er messerscharf, hat den Revolver an eine Schnur gebunden und diese an einen Stein. Im Tod habe sich ihre Hand gelöst, der Stein zog den Revolver hinab - und hinterließ die Schramme.

Holmes konnte das, konnte aus einem schiefen Absatz auf juvenile Schwerhörigkeit schließen und las in einem Fleck auf der Krawatte nicht nur die Kochzeit des Frühstückeis ab sondern ein ganzes verpfuschtes Leben. "Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein - wie unwahrscheinlich es auch ist", das war sein Leitspruch. Und wenn man alles Unmögliche ausschließt, aber am Ende gar nichts übrig bleibt?

Die Londoner Sherlock Holmes Society jedenfalls möchte den Fall Green aufs Akademische beschränken: Der Doyle-Nachlass liegt inzwischen tatsächlich in der British Library, wo Green ihn hätte einsehen, wo er sein Werk hätte vollenden können. Und Greens eigener Nachlass - ein Konvolut von 20000 Objekten im Wert von zwei Millionen Pfund (2,9 Millionen Euro), ein in vierzig Jahren zusammengeraffter Schatz, zu dem ebenso das medizinische Notizbuch eines gewissen Dr. Sherlock gehört, der Doyle wohl inspirierte, wie ein kompletter Nachbau des Holmesschen Studierzimmers - Greens Nachlass steht auf seinen eigenen Wunsch hin Forschern aus aller Welt offen. Er vermachte seinen Nachlass der Bibliothek in Portsmouth. In Southsea, einem Vorort Portsmouths, hatte Arthur Conan Doyle als Arzt praktiziert, hier hatte er zwei Kurzgeschichten geschrieben. Das Holmes-Universum ist um eine Pilgerstätte reicher.

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