Sexuelle Gewalt:Falsche Heilige

FRANCE-MUSIC-LEVINE

Dirigent James Levine mit dem Boston Symphony Orchestra 2007 während einer Probe in Paris.

(Foto: AFP)

Der Fall James Levine zeigt: Sexuelle Gewalt tritt dort auf, wo sakrosankte Menschen in unangreifbaren Institutionen herrschen. Es ist an der Zeit, schmerzhafte Fragen zu stellen.

Kommentar von Matthias Drobinski

Jetzt also auch James Levine, der große Dirigent. Levine, the divine, wie ihn seine Bewunderer nannten. Levine, der Göttliche. Ein Mann wirft ihm vor, Levine habe seine Macht missbraucht, um ihn in eine sexuelle Beziehung zu zwingen; als die begonnen habe, sei er erst 16 Jahre alt gewesen. Drei weitere Männer haben der New York Times Vergleichbares berichtet. Seit im Oktober mehrere Frauen öffentlich machten, der Filmproduzent Harvey Weinstein habe sie belästigt, genötigt, gar vergewaltigt, ist die Spirale des Schweigens durchbrochen, melden sich Frauen und Männer aus der Film-, Theater- oder Musikbranche und berichten von sexuellen Übergriffen und Grenzverletzungen.

Man muss genauer sagen: Wieder einmal ist eine Spirale durchbrochen. Wieder werden Muster sexueller Übergriffe und ihrer jahrelangen Vertuschung sichtbar. 2003 in den USA und dann von 2010 an in Deutschland traf es die katholische Kirche; im selben Jahr auch die reformpädagogische Odenwaldschule; 2011 wurde das Missbrauchssystem offenbar, das der Kult-Moderator Jimmy Savile in der britischen BBC aufgebaut hatte. Die Fälle sind unterschiedlich, die Muster aber deprimierend ähnlich: Sexuelle Gewalt in solchen halböffentlichen Räumen braucht eine Struktur. Sie braucht Milieus, in denen sakrosankte Menschen in unangreifbaren Institutionen herrschen, fast immer Männer, die ihre eigenen Regeln schaffen oder Regeln brechen können - und in denen es ein Umfeld gibt, das dieses Sakrosankte fördert, akzeptiert oder zumindest schulterzuckend hinnimmt.

Auch bei James Levine ahnten es viele - wissen wollte es keiner

Das funktionierte beim gottgleich gesetzten Priester der heiligen Kirche wie beim kultisch verehrten Moderator der BBC - so, wie es bis jetzt bei Levine, the divine, funktioniert hat. Einen Mann wie Levine habe man nicht einfach zurückweisen können, hat der Junge von damals erzählt - es ist die Erzählung so vieler Opfer. So, wie man in der Kirche, der Odenwaldschule oder der BBC zwar tuschelte, aber nicht nachfragte, geschah das auch bei Levine; das wegschauende Halbwissen unterscheidet sich in den jeweiligen Milieus nur unwesentlich. Selbst die Abwehrreaktionen sind vergleichbar: Wenn Betroffene sich endlich trauen, den Mund aufzumachen, gilt es, die Kirche, die Reformpädagogik oder den freien, wilden Künstler gegen die Spießer zu verteidigen.

In jedem Milieu hat sexuelle Gewalt auch ihren eigenen bitteren Geschmack, hat der Pater Klaus Mertes gesagt, der den Missbrauchsskandal bei den Jesuiten aufzudecken half. Für die katholische Kirche heißt es, dass falsche Heiligungen verbunden mit einer totalen Tabuisierung von Sexualität die Grenzen zwischen erlaubt und verboten haben verschwimmen lassen. In Milieus wie der Odenwaldschule, der BBC, dem Kulturbetrieb hieße es zu fragen, ob nicht auch falsche Heiligungen verbunden mit der totalen Enttabuisierung von Sexualität die Grenzen verschwimmen lassen. Das sind schmerzhafte Fragen. Aber sie zu stellen ist wichtiger, als sich über einzelne Täter aufzuregen.

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