Sexismus im Ballett:Wer Ideen von vorvorgestern kultiviert, richtet Schaden an

Embargo on image use until curtain down on Monday 6th November 2017; The Wind. Thomas Whitehead as Wirt Roddy and Natalia Osipova as Letty Mason. ©ROH, 2017. Ph by Tristram Kenton.

Wieso werden Frauen offenbar mit Vorliebe als Opfer porträtiert, so wie in "The Wind" von Arthur Pita, das kürzlich am Royal Ballet in London uraufgeführt wurde?

(Foto: ©Tristram Kenton)

Die Ballettwelt diskutiert über Sexismus - nur nicht in Deutschland. Dabei könnte der Umgang mit Geschlechterbildern über die Zukunft des Tanzes entscheiden.

Von Dorion Weickmann

Vor gut eineinhalb Jahren gerieten der britische Tanzkritiker Luke Jennings und der Choreograf Wayne McGregor öffentlich aneinander. Stein des Anstoßes war das Foto einer McGregor-Produktion, das Natalia Osipova, Primaballerina des Royal Ballet, bei einer Hebefigur mit einem Kollegen zeigte, die Beine spagatgespreizt zum Publikum. Osipovas (bekleideter) Schamhügel markierte die Mitte des Bildes, das Jennings in die Welt twitterte mit der Frage, ob das nun innovativ sei, oder ausbeuterisch und erniedrigend.

McGregor ging zum Gegenangriff über und belehrte den Rezensenten, ein Körper könne abstrakt, weil "reine Form, reine Linie, rein kinetisch" sein. Angesichts der in Rede stehenden Aufnahme war das ein reichlich blödsinniger Kommentar. Die Herren kreuzten ein paar Stunden lang die Twitter-Klingen, dann schien die Sache erledigt zu sein. Doch untergründig läuft seitdem eine Diskussion um weibliche und männliche Rollenklischees auf der Tanzbühne, um geschlechterstereotype Erzählstränge, den eklatanten Mangel an Choreografinnen, ja überhaupt um die Frage: Wie verhält es sich mit Männern und Frauen im Tanz?

Die Frontlinien sind klar: Traditionalisten gegen die Vorwärtsfraktion

Das zeitgenössische Fach hat diesbezüglich weniger Korrekturbedarf, aber im Ballett wird erstmals laut und vernehmlich über szenische Unwuchten und künstlerische Missstände diskutiert. So unlängst geschehen, nachdem Alexei Ratmansky, Hauschoreograf des American Ballet Theatre, via Facebook verkündet hatte: "Gleichberechtigung gibt es nicht im Ballett: Frauen tanzen auf Spitze, Männer heben und unterstützen sie. Frauen kriegen Blumen... nicht umgekehrt (ich weiß, es gibt ein paar Ausnahmen). Und ich fühle mich damit sehr wohl." Das Contra kam mit der ersten Antwort, Hunderte folgten: "Ein Unding von vielen, das die gruselige Ballettwelt beheben muss." Ratmanskys Post provozierte eine hitzige Debatte über Geschlechterkonvention und -konfektion, an der sich Tänzer, Kompanieleiterinnen, Wissenschaftler beteiligten und die ihren Weg auch in die New York Times fand.

Die Frontlinien sind klar. Geschichtsbewusste Traditionalisten eilen Ratmansky zu Hilfe, die Vorwärtsfraktion ruft nach radikaler Neuerung: weg mit dem Kavaliersgetue, dem Primat der Hetero-Ästhetik, dem ganzen Museumsplunder rund um den "Schwanensee". Eine Forderung, die man für ahistorisch und weit überzogen halten mag, trotzdem gilt: eine Kunst, die Gegenwartsentwicklungen nicht zur Kenntnis nimmt oder systematisch ausblendet, kann noch so viel "audience development" betreiben, sie wird ihr Publikum verlieren, und damit auch ihre Legitimation. Wo die Gesellschaft über Rassismus, Migration, Chancengleichheit diskutiert, kann das Theater nicht einfach weitermachen wie bisher. Die Ikonografie geschlechtlicher oder ethnischer Differenz ist ein hochsensibles Thema, auch wenn das Klassiker-Repertoire deshalb nicht gleich entsorgt oder nach Maßgabe des Gender-Mainstreaming bereinigt werden muss. Aber wer Ideologien und Ideen von vorvorgestern unbekümmert weiter kultiviert, richtet Schaden an.

Es ist der erste Fall dieser Art, der in Europa publik wird

In London bekommt das gerade Arthur Pita zu spüren. Sein fürs Royal Ballet entworfener Einakter "The Wind" löste genauso viel Empörung aus wie kurz davor die Wiederaufnahme von Kenneth MacMillans "The Judas Tree" oder Alexei Ratmanskys "Odessa", das beim New York City Ballet herauskam. Alle drei Werke beinhalten Gewalt- und Vergewaltigungsszenen, die - nicht zuletzt unter dem Eindruck des Weinstein-Skandals - Fragen aufwerfen: Wieso werden Frauen offenbar mit Vorliebe als Opfer porträtiert, warum werden Folter, Mord und Totschlag minutenlang ausgewalzt und ohne erkennbaren Bruch in die glamouröse Optik des Balletts eingeklinkt? Dass solche Sachverhalte überhaupt auffallen und Choreografen sich veranlasst sehen, ihr Vorgehen zu erklären oder zu überdenken, ist neu - und durchaus erfreulich.

Ausgesprochen unerfreulich, aber alles andere als überraschend ist eine andere Entwicklung. Das Theater von Bezons bei Paris sagte vergangene Woche die Premiere einer Choreografie von Daniel Dobbels ab. Fünf Tänzerinnen haben den Künstler und Hochschullehrer des sexuellen Übergriffs bezichtigt.

Es ist der erste Fall dieser Art, der in Europa publik wird. Er wird hoffentlich auch hierzulande die Szene aufrütteln. Denn trotz Weinstein und #MeToo haben die Spitzenverbände, namentlich die Bundesdeutsche Ballett- und Tanztheaterdirektorenkonferenz und die Ausbildungskonferenz Tanz, das Thema bislang links liegen gelassen. Was angesichts der Tatsache, dass es nicht nur um erwachsene Profis beiderlei Geschlechts, sondern auch um Kinder und Jugendliche geht, mindestens fahrlässig ist. Zeit also, auch im deutschen Theaterbetrieb über den Tanz der Zukunft nachzudenken: vor und hinter den Kulissen.

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