Serie:  Wort Für Wort, Teil 8:Der Geschmack einer Madeleine

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Lieblingsspeise Marmorkuchen: Der Geschmackssinn fungiert besonders gut als Türöffner für die Erinnerung - das wusste schon Marcel Proust.

(Foto: imago)

Ilse Baumgarten und Jutta Beuke schicken bei ihren Seminaren zu biografischem Schreiben ihre Schüler mit Hilfe von sinnlichen Erinnerungen auf die Suche nach dem eigenen Ich

Von Barbara Hordych

Heinz erzählt von dem Marmorkuchen seiner Mutter. Natürlich liebte er den Geschmack, aber noch viel mehr faszinierten ihn als Kind die schokoladenfarbigen Zeichnungen in dem hellen Teig, wenn der Kuchen angeschnitten auf einer Platte ruhte. "Ich entdeckte in ihnen Hasen und Schweinchen" liest der grauhaarige Mann in dem gemusterten Pullunder vor. "Noch heute wird die Kuchenplatte in unserer Familie weitergereicht", beschließt er seinen Text. "Das war in den Vierziger Jahren", setzt er beinahe entschuldigend hinzu. Tatsächlich ist Heinz nicht nur der älteste, sondern auch der einzige männliche von elf Teilnehmern, die sich an diesem Samstag in Nymphenburg zum Kurs "Biografisches Schreiben" zusammengefunden haben.

Gemeinsam begeben sie sich unter Anleitung der Schreibpädagoginnen Ilse Baumgarten und Jutta Beuke auf "Spurensuche" in ihrem eigenen Leben. Als Schreibimpuls für den ersten längeren Text dieses Tages haben die beiden Kursleiterinnen die Aufgabe gestellt, sich an den Geschmack einer Lieblingsspeise zu erinnern, die Lebensphase zu beschreiben, mit der man sie verbindet - und dabei die Person vorzustellen, die das Gericht zubereitet hat. Fast alle kehren dafür in ihre Kindheit zurück. So erfährt die Runde von einer Mutter, für die als "Vollbluthausfrau" auch im Alltag ein Mittagessen aus mehreren Gängen bestand. "Nur auf dem Weg mit dem Wohnwagen in den Urlaub an die Atlantikküste machte sie eine Ausnahme: Sie öffnete Konservendosen mit Eier-Ravioli in Tomatensoße, ein Geschmack, den wir Kinder liebten - war es für uns doch der Startschuss in vier Wochen Ferien", liest die Mittvierzigerin Monika vor. Auch von Resi, die dem verwitweten Großvater jahrzehntelang den Haushalt führte, erfahren die Zuhörer. "Sie nahm mich als Kind mit zur Kirmes, wenn ich bei meinem Opa zu Besuch war; dort kaufte sie mir Bonbons, heimlich, weil mein Opa eigentlich dagegen war", berichtet Erika, auch sie etwa Mitte Vierzig. Als der Großvater starb, gab es ein eigens wegen Resi einberufenes Familientreffen. "Es ging um die Frage, was mit ihr passieren sollte. Ich habe mir natürlich sehr gewünscht, dass sie zu uns, ins Haus meiner Eltern kommt", trägt sie vor.

"Sinnliche Eindrücke sind Türöffner für die Erinnerung, insbesondere die Eindrücke, die wir über den Geschmacks- und Geruchssinn aufnehmen", sagt Ilse Baumgarten bei einem Treffen in einem Café im Glockenbachviertel. Das wusste schon Marcel Proust, für den der Geschmack eines in Lindenblütentee getunkten Gebäckstücks namens "Petite Madeleine" in seinem Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" als Schlüssel zur Vergangenheit diente. Kaum zergeht das Gebäck auf seiner Zunge, überströmt den Erzähler Marcel ein unerhörtes Glücksgefühl: "Mit einem Mal war die Erinnerung da."

Das den Hirnforschern längst bekannte Phänomen sei für die Schreibenden hingegen oft überraschend; die durch den Geschmackssinn ausgelösten Erinnerungen kämen für sie "scheinbar aus dem Nichts", erklärt Jutta Beuke. Die Seminare der Germanistin (Beuke) und der Architektin (Baumgarten), die beide eine Zusatzausbildung zur Schreibpädagogin an der Alice Salomon Hochschule in Berlin absolvierten, sind gesucht. Einerlei ob bei der Münchner Bücherschau, bei der Bayerischen Krebsgesellschaft, in Luzern oder in der Toscana. "Wenn man erst einmal entdeckt hat, wie viele Geschichten in einem stecken, die nur darauf warten, in Worte gefasst zu werden, ist das häufig ein Erlebnis, das man vertiefen möchte", sagt Jutta Beuke.

Gelegenheit dazu gibt es neben der eintägigen "Spurensuche" auch bei der mehrtägigen "Nahaufnahme", die einem persönlichen Schreibthema gewidmet ist. Das kann ein Konflikt sein, der immer wieder als roter Faden in verschiedenen Lebensphasen auftaucht, oder eine problematische Beziehung zu einer bestimmten Person wie etwa der eigenen Mutter. Zu den häufig gestellten Lebensfragen gehören auch der Kinderwunsch, der Umgang mit Geld sowie die Verortung der Heimat.

Von allen Teilnehmern wird erwartet, dass sie zumindest einmal etwas von ihrem selbst Geschriebenen laut vorlesen. Jedem Text wohne eine tiefe Sehnsucht inne, gehört zu werden, erklärt Ilse Baumgarten denn auch nach der ersten Schreibphase an diesem Samstag. Wirklich? Die Teilnehmer blicken leicht skeptisch in die Runde. Es ist wie so oft - wer macht den Anfang? "Hier sitzen empathische Zuhörer in einem geschützten Raum", ermuntert Ilse Baumgarten. Und fügt in ihrer leisen, besonnenen Art hinzu: Erst wenn das Geschriebene nicht mehr "stumm" sei, sondern eine "Zeugenschaft" auftrete, könne man "innerlich ruhig werden, weil das Gedächtnis ruhig werde". Das überzeugt. Kurz darauf gibt es mehr Interesse am Vortragen als Zeit zur Verfügung steht. Schließlich soll noch weiter geschrieben werden.

Haben Sie eigentlich schon Teilnehmer mit "Blockaden" erlebt, die zwar schreiben wollten, aber nicht konnten? Kurzer Blickwechsel, dann antwortet Jutta Beuke: "Wir hatten schon einmal eine Psychoanalytikerin, die eine Woche biografisches Schreiben in Österreich gebucht hatte. Am ersten Tag stellte sie entsetzt fest, dass sie über ihr eigenes Leben schreiben sollte. Wir verstehen biografisches Schreiben ja immer als autobiografisches Schreiben." Und, wie reagierte sie? Ein leichtes Lächeln umspielt Beukes Mundwinkel. "Sie blieb. Sie sagte: ,Ich werde schon einen Grund gehabt haben, dieses Seminar zu buchen, und den finde ich jetzt auch heraus.'"

Was passiert mit dem im Kurs Geschriebenen? Um eine Veröffentlichung gehe es vordergründig nie, erklärt Ilse Baumgarten. Sie habe aber von Teilnehmern erfahren, die den Personen, die sie beschrieben hatten, ihren Text überreichten. Wie die Mutter, die über den Rucksack ihrer Tochter schrieb, als die Aufgabe lautete, einen nahestehenden Menschen über einen typischen Gegenstand zu charakterisieren. Der Rucksack war eigentlich viel zu teuer. Aber die Tochter bekam ihn trotzdem geschenkt, weil sie ihn sich so sehr wünschte. "Das Kuriose daran war, dass schließlich die Mutter mit dem Rucksack auf Wanderschaft ging", erzählt Ilse Baumgarten. Im Falle der Haushälterin Resi war ein solches Textgeschenk freilich nicht mehr möglich. "Sie wurde in unserer Familie nicht mehr weiterbeschäftigt", trägt Erika in bedauerndem Ton das Ende ihrer Geschichte vor. Weshalb sie auch die Resi nie mehr wieder gesehen habe. Geblieben seien ihr die Erinnerung an den Geschmack ihrer Speisen. Besonders natürlich den der Bonbons.

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