Serie: "Was ist deutsch?":Warum Ostdeutschland mehr Ausländer braucht

Deutschkurs

Eine Asylbewerberin nimmt an einem Deutschkurs teil.

(Foto: dpa)

In kaum einer Frage gibt es so wenig deutsche Einheit wie im Verhältnis zu Einwanderern.

Gastbeitrag von Michael Bittner

Einer der Sätze, die ich von anderen Ostdeutschen im letzten Jahr am häufigsten gehört habe, lautet: "Wir wollen bei uns keine westdeutschen Verhältnisse!" Die Menschen, die das sagen, wehren sich mit diesen Worten nicht gegen höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten. Was sie meinen, ist: Wir wollen bei uns im Osten nicht so viele Ausländer wie im Westen. Mehr noch: Viele Ostdeutsche blicken mit völligem Unverständnis, ja mit Abscheu auf die Selbstverständlichkeit, mit der Westdeutsche und Mitbürger ausländischer Herkunft zusammenleben.

Umgekehrt sind vielen Westdeutschen ihre italienischen oder türkischen Freunde weniger fremd als die seltsam übellaunigen Brüder drüben in der Zone. In kaum einer Frage gibt es so wenig deutsche Einheit wie im Verhältnis zu Einwanderern. Die Bewertung der Ausländer spaltet die Inländer. Erst, wenn man diesen Zusammenhang begreift, wird die Wut verständlich, mit der einige Sachsen auf der Straße gegen Ausländer und westdeutsche Politeliten gleichermaßen anschreien. Kaum etwas erfreute die Pegida-Anhänger in Dresden mehr als die Idee der Rednerin Tatjana Festerling, die innerdeutsche Mauer wieder aufzubauen, um Ausländer und Linke an der Einreise in den Osten zu hindern.

Der Internationalismus der DDR war Propaganda

Fremdenfeindlichkeit gibt es in ganz Deutschland. Aber nirgends tritt Fremdenhass so unverschämt und militant zutage wie in den östlichen Bundesländern. Dabei leben bekanntermaßen nur sehr wenige Einwanderer im Osten. Der Internationalismus der DDR war hauptsächlich Propaganda: Die wenigen Vertragsarbeiter aus sozialistischen Bruderstaaten wurden meist in Heimen eingeschlossen, bei Schwangerschaft mussten sich Frauen oft zwischen Abtreibung und Abschiebung entscheiden. Und auch nach der Wende gab es für Migranten wenig Anlass, in die neuen Bundesländer zu ziehen, die mit Arbeitslosigkeit und national befreiten Zonen lockten.

Spricht man die Menschen im Osten auf die geringe Zahl von Ausländern an, dann erwidern nicht wenige: "Ja, aber das soll auch so bleiben!" Man kann in der ostdeutschen Provinz - und im Grunde ist der ganze Osten Provinz - noch heute aufwachsen und leben, ohne je in persönlichen Kontakt zu einem Menschen ausländischer Herkunft zu kommen. Auch im Westen mag das möglich sein, aber man muss sich dort schon Mühe geben. Im Osten ist es Normalität. Was immer die ostdeutsche Furcht vor Fremden verursacht, Überfremdung kann es schwerlich sein.

In solcher Monokultur wuchs auch ich auf. In zwölf Schuljahren begegnete mir kein einziger ausländischer Mitschüler, auch die Stadt Dresden, wo ich ein Studium begann, besaß nicht eben einen kosmopolitischen Charakter. Als ich damals eine Cousine in Köln besuchte, betrachtete ich das dortige Durcheinander verschiedenster Kulturen mit einer Mischung aus Faszination und Unbehagen.

Einmal saß ich in der U-Bahn neben einer türkischen Familie: ein Mann, seine Frau mit Kopftuch, ein Junge und ein Mädchen. Die Kinder neckten einander. Da zog das Mädchen ihrem Bruder aus Spaß die Schleife der Schnürsenkel auf. Der Vater sah es, packte den Arm seiner Tochter und schlug mehrmals zu. Das Mädchen weinte, die Mutter murmelte leise etwas Unverständliches. Ich aber war ziemlich erschrocken und fühlte mich bestätigt in allem, was ich über "die Türken" und ihre Rückständigkeit zu wissen glaubte. Denn so reproduziert sich das Ressentiment: Jeder Fremde, dem wir begegnen, erscheint uns zunächst nicht als Individuum, sondern als Vertreter einer Gruppe. Ein einziges Erlebnis kann ein Vorurteil zementieren - wenn es nicht durch andere Erlebnisse ausgeglichen wird.

Deutscher als der Rest

Viele Ostdeutsche begegnen Fremden selten oder überhaupt nur in der Bild. Dadurch aber fehlt ihnen die Möglichkeit, Vorurteile durch alltägliche Begegnungen abzubauen. "Kreuzberg" und "Neukölln" sind ihnen zum Symbol für die Hölle auf Erden geworden und in jedem Muslim erscheint ihnen Neukölln verkörpert. Ich wohne seit einigen Jahren in Berlin, wo sich alle Probleme, aber auch die Schönheiten einer multikulturellen Gesellschaft zeigen. So bin ich inzwischen recht abgehärtet. Doch beobachte ich noch immer nicht ohne Mitgefühl sächsische Landsleute, die beim Besuch in Berlin heillos überfordert sind.

Jüngst saß ich in einer U-Bahn neben einem sächsischen Rentnerpaar. Im Waggon waren auch zwei Frauen mit kleinen Jungs, wahrscheinlich südosteuropäischer Herkunft. Die Jungs bettelten bei den Passagieren um Geld, die Berliner starrten routiniert ins Nichts. Als die Jungs merkten, dass niemand ihnen etwas gibt, lachten sie laut los. Dann holten sie aus ihren Jackentaschen Capri-Sonne-Packungen und tranken. Die sächsischen Rentner waren empört. "Mit dem erbettelten Geld kaufen die sich so ein teures Zeug!", sagte die Frau laut. "Unser Enkel ist glücklich, wenn er zu Weihnachten einmal im Jahr einen Karton Capri-Sonne bekommt!" Zurück in der Heimat erzählten die beiden ihr Erlebnis gewiss allen Bekannten brühwarm an der Kaffeetafel - als weiteren, unumstößlichen Beleg dafür, wie es um "die Ausländer" im Moloch Berlin bestellt sei.

Die ostdeutschen Patrioten sind überzeugt, sie seien deutscher als der Rest der Republik. Das ist wahr und falsch zugleich. Es kommt darauf an, was man unter Deutschheit versteht. Fragte man mich nach meiner Haltung, dann verwiese ich auf die Epoche, die ich am meisten liebe: die Goethezeit. Meine Leidenschaft beruht nicht zuletzt auf der Tatsache, dass es in dieser Zeit zwar Deutsche, aber kein Deutschland gab. Die deutsche Sprache und Kultur vereinigten die Menschen, wenigstens die Gebildeten, nicht aber die Religion und die Politik.

Wir hätten besser auf Goethe und Schiller gehört

Dieser Mangel an äußerlicher Einheit wurde aber nicht als Schwäche, sondern als Stärke aufgefasst: Gerade die innere Vielfalt, die Offenheit für Einflüsse aus aller Welt und die übernationale Humanität galten als Stärken der Deutschen. Es war die Zeit, in der Goethe und Schiller ihr Xenion "Deutscher Nationalcharakter" veröffentlichten: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!" Wir hätten vielleicht besser auf die beiden gehört.

Während der Befreiungskriege entstand ein anderer Begriff von Deutschtum. Der Mangel an Identität wurde durch den "Volkshass" gegen innere und äußere Feinde kompensiert. Die Begründer dieses völkischen Nationalismus waren verbohrte Ideologen, Franzosenfresser, Judenhasser: In den Schriften von Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn findet sich schon alles, was Deutschland später furchtbar machte. Sie alle beriefen sich auf das zweifelhafte Lob, das der Römer Tacitus den Germanen gespendet hatte: Diese seien "Ureinwohner, von Zuwanderung und gastlicher Aufnahme fremder Völker gänzlich unberührt", "ein reiner, nur sich selbst gleicher Menschenschlag eigener Art". Der deutsche Nationalismus war so von Anfang an rassistisch verseucht, nicht nur theoretisch, sondern durch das heute noch nicht ganz überwundene Blutrecht auch in der Praxis. Die Ausbürgerung und Ermordung der Juden durch die Nazis war nur die schrecklichste Konsequenz dieser Blutlehre.

Serie: "Was ist deutsch?": Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: Der Historiker Jörn Leonhard.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: Der Historiker Jörn Leonhard.

Serie
Was ist deutsch?

Die Serie "Was ist deutsch?" behandelt Facetten und aktuelle Fragestellungen deutscher Identität. Erschienene Artikel:

"Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger." So lautet eines der in mangelhaftem Deutsch niedergeschriebenen Donnerworte des Turnvaters Jahn. Es spukt auch heute noch in den Köpfen der Deutschen, die sich vor einer "Umvolkung" durch Einwanderung fürchten. Dass Turnhallen gerade zur Unterbringung von Flüchtlingen zweckentfremdet werden, erfüllt mich daher auch mit Genugtuung. Ich setze in die Umvolkung gerade für Ostdeutschland große Hoffnungen.

Denn die identitäre Wahnidee, eine Nation müsse aus einer möglichst homogenen Volksgemeinschaft bestehen, wird durch die Praxis besser widerlegt als durch theoretische Kritik. Erst die persönliche Begegnung mit Fremden kann es den Ostdeutschen ermöglichen, die Menschen hinter den Vorurteilen zu entdecken. Viele Politiker und Politologen meinen, man dürfe die Ostdeutschen nicht durch Zuwanderung überfordern, weil man dadurch den Fremdenhass erst schüre. Ich möchte meine gegenteilige Auffassung so zusammenfassen: Bitte überfordert uns!

Michael Bittner wurde 1980 in Görlitz geboren und lebt heute in Berlin. Zuletzt erschien von ihm "Wir trainieren für den Kapitalismus" (Edition Azur).

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