Serie "Was ist deutsch?":Emotion und Politik

Serie "Was ist deutsch?": Angela Merkel galt zu Unrecht als spröde, nüchtern, kontrolliert. Neuerdings halten viele sie wiederum für emotional. Und das ist ihnen auch wieder nicht recht.

Angela Merkel galt zu Unrecht als spröde, nüchtern, kontrolliert. Neuerdings halten viele sie wiederum für emotional. Und das ist ihnen auch wieder nicht recht.

(Foto: AP)

Wer anderen Gefühlspolitik vorhält, betreibt meist selber welche. Das war schon bei Bismarck so, und ist es auch nach Köln.

Gastbeitrag von Ute Frevert

Bis vor wenigen Monaten war die deutsche Bundeskanzlerin kaum für ihre Gefühligkeit bekannt. Zwar haftete ihr nicht, wie weiland Margaret Thatcher, der Ruf einer Eisernen Lady an, die über Leichen ging. Dennoch ließ sich auch Angela Merkel nicht in die Karten schauen.

Ihre Auftritte waren sachlich und leidenschaftslos, das galt für Sprache und Tonfall ebenso wie für Mimik und Körperhaltung. Möglicherweise entsprach das ihrem Naturell. Wahrscheinlicher aber ist, dass die erste Frau auf diesem Posten ganz bewusst einen Gestus der Gefühlsabstinenz zur Schau stellte. Denn selbstverständlich kannte sie die Vorurteile gegenüber weiblichen Politikern: Frauen seien zu emotional für dieses Geschäft, ließen sich von Sympathien und Antipathien leiten, neigten zu unüberlegten Schlüssen und nähmen alles viel zu persönlich.

Angela Merkel hat dieses Zerrbild in den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft demontiert. Viele warfen ihr Gefühlskälte vor, als sie einer zwölfjährigen Schülerin aus dem Libanon erklärte, dass Deutschland nicht allen Flüchtlingen ein dauerhaftes Bleiberecht geben könnte.

Die Kanzlerin hält an ihrem Kurs der offenen Tür fest

Das hat sich seit Merkels Kehrtwende im Herbst grundlegend verändert. Mittlerweile gilt sie als Kanzlerin der Herzen, die "durch Emotion" führt und "Emotionalität als neues politisches Stilmittel" einsetzt. Das trägt ihr im In- und Ausland teilweise Zustimmung ein. Die von ihr mitgetragene Willkommenskultur hat viele überrascht. Auch dass die Kanzlerin trotz zahlreicher konservativer Anfeindungen an ihrem Kurs der offenen Tür festhält, verschafft ihr Respekt. So viel Führungsstärke haben wenige von ihr erwartet.

Doch es gibt auch ablehnende Stimmen, und gerade sie zielen auf das, was sie abschätzig "Gefühlspolitik" nennen: eine Politik, die sich von Stimmungen leiten lässt oder, schlimmer noch, die selber Stimmungen produziert und daraus ihre Entscheidungen legitimiert. Nicht das Mitgefühl für die Flüchtenden, deren Not von den Medien in Szene gesetzt werde, dürfe politische Entscheidungen motivieren, so das Mantra. Im Gegenteil sei es Aufgabe der Politik, das Für und Wider solcher Entscheidungen rational zu prüfen und die Folgekosten für das eigene Land mit Augenmaß abzuschätzen.

Nicht wenige, die ihr Gefühlspolitik vorwerfen, fahren interessanterweise selber emotionales Geschütz auf: Sie berufen sich auf kollektiv geteilte Ängste und Sorgen, sie entwerfen Katastrophenszenarien und beschwören schwarzseherisch eine Zukunft, in der es für Deutschland nur noch bergab geht. Nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten sind diese Stimmen noch lauter geworden, oft schrill, manchmal hasserfüllt.

1919 schrieb Max Weber von "nüchterner Reflexion" und "Leidenschaft für die Sache"

Aber ist der Vorwurf an Angela Merkel tatsächlich begründet? Ist sie eine frisch entbrannte Gefühlspolitikerin? Oder entspricht ihr Führungsstil nicht vielmehr Max Webers Charakteristik, der Politik als "Parteinahme, Kampf, Leidenschaft" definiert und davon gesprochen hatte, dass "heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß" in der Seele des Politikers "zusammengezwungen" werden müssten? Nüchterne Reflexion reiche nicht aus, um politisches Handeln zu charakterisieren; hinzu trete die Leidenschaft für die Sache, an die der Handelnde glaube. Das schrieb Weber 1919, zu einer Zeit, als solche Leidenschaften die Straße beherrschten und politische Propheten jedweder Couleur um Gefolgschaft wetteiferten. Dem Soziologen stand besonders die Figur Kurt Eisners vor Augen, des Anführers der bayerischen Novemberrevolution, der sein Publikum durch mitreißende Reden und fulminante öffentliche Auftritte hinter sich scharte.

Aber auch Politiker mit geringerer demagogischer Begabung waren in demokratisch-parlamentarisch verfassten Gesellschaften gut beraten, sich in Sachen Gefühlspolitik weiterzubilden. Wer auf dem politischen Massenmarkt Anhänger mobilisieren wollte, musste sich ein Quäntchen Charisma zulegen und zumindest so tun, als ob er für eine Sache "brannte".

Selbst in politischen Systemen, deren Legitimität à la Weber vorrangig auf Recht und Gesetz, auf kalkulierbaren und einklagbaren Regeln beruht, wurde Politik "zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiss nicht nur mit dem Kopf gemacht". Der Glaube an bestimmte Wertideen war ebenso wichtig wie der Versuch, Bürgerinnen und Bürger "affektuell" dafür zu begeistern und bei der Stange zu halten. Sachliches Argumentieren verband sich mit emotionaler Ansprache, die gerade in Wahlkämpfen eine mitunter leidenschaftliche Färbung annahm.

Das unselige Wort "Gefühlspolitik"

All das war Weber, der die halbparlamentarische Politik des Kaiserreichs intensiv analysiert und kommentiert hatte, aus eigener Anschauung bewusst. Es war auch Otto von Bismarck bekannt, dem Helden aus Webers Jugendjahren. Bismarck imponierte Weber als ein leidenschaftlicher Politiker, der sich mit aller Kraft - und davon besaß er eine Menge - für ein Ziel einsetzte: die machtpolitische Stärke Preußens und, seit 1871, Deutschlands.

Aber Bismarck war auch derjenige, der das unselige Wort "Gefühlspolitik" in Umlauf setzte. Darunter verstand er eine Politik der "Romantik", wie er sie beim preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und dessen hochkonservativer Entourage in den 1850er-Jahren zu erkennen meinte: eine Politik, die nicht den Grundsätzen staatlichen Egoismus folgte, sondern auf persönlichen Vorlieben und Abneigungen des Monarchen beruhte. Bismarck sah darin eine "ausschließlich Preußische Eigenthümlichkeit; jede andre Regirung nimmt lediglich ihre Interessen zum Maßstabe ihrer Handlungen, wie sie dieselben auch mit rechtlichen oder gefühlvollen Deductionen drapiren mag".

Seinerseits tat Bismarck als preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler später alles, um die "Doktrinen deutscher Gefühlspolitiker" zu entwerten und sich auf den "praktischen Boden der Kabinettspolitik" zu stellen. Diese Politik gehorchte einzig und allein den "Interessen Preußens und seiner Krone" oder dem, was Bismarck dafür hielt. Auf Prinzipien und Traditionen zu pochen, war nur so lange opportun, wie es den Staatsinteressen zugutekam.

Bismarck verstand sich im Kern als Realpolitiker

Zugleich wurden diese Interessen mit "gefühlvollen Deductionen" garniert, um sie einem zunehmend politisierten Massenpublikum nahezubringen. Gern sprach der Eiserne Kanzler von Ehre und Vaterlandsliebe, und bravourös spielte er auf der Klaviatur "dynastischer Anhänglichkeit". Jedes Attentat auf den Monarchen nutzte er dazu, seinen politischen Widersachern die Luft abzuschnüren. Damit betrieb er gewissermaßen eine Gefühlspolitik zweiter Ordnung, die die Gefühle anderer nach Belieben manipulierte und instrumentalisierte. Bismarck hätte diesem Urteil vermutlich sogar zugestimmt. Im Kern jedoch verstand er sich als Realpolitiker, der sich niemals von Gefühlen leiten ließ.

Aber kann man die Unterscheidung zwischen Realpolitik und Gefühlspolitik tatsächlich in dieser Schärfe aufrechterhalten? War nicht auch Bismarcks praktisch-pragmatische Kabinettspolitik von Leidenschaft getrieben? Ging es in der Frontstellung zu Friedrich Wilhelm IV. nicht eher um die Konkurrenz verschiedener Wertideen, an die beide mit gleicher Intensität glaubten: hier die Anhänglichkeit an dynastische Traditionen und die Rechtsbasis heiliger Allianzen, dort die Passion für Preußens "Egoismus" und Größe?

Und wie steht es mit den emotionalen Drapierungen jenes "Egoismus"? War die kleidsame Gefühlssprache wirklich nur Ornament und Schleier, oder entfaltete sie eine eigene Wirkungsmacht? In den 1850er-Jahren konnte Bismarck sich noch zutrauen, diese Dynamik zu steuern und zu kontrollieren. Ein halbes Jahrhundert später war es damit vorbei. Zahlreiche Parteien, Vereine, Verbände und Gruppen überboten einander mit gefühlvoller Rhetorik: Ehre, Stolz, Hass, Neid, Ressentiment fanden unter dem Dach der Vaterlandsliebe eine feste Heimstatt. Welchen Druck diese Rhetorik auf die Regierungspolitik auszuüben vermochte, zeigte sich im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs.

Der Weltkriegsgefreite Adolf Hitler hätte sich diesen Druck noch größer gewünscht. Als er 1925 über die Ursachen der deutschen Niederlage nachdachte, kritisierte er die Regierung dafür, dass sie sich propagandistisch zu stark zurückgehalten und die Bevölkerung nicht ausreichend motiviert habe. Daraus zog er den Schluss, es demnächst besser zu machen. Tatsächlich hat der Propagandaapparat des Nationalsozialismus ganz andere gefühlspolitische Register gezogen. Hitler sah im Volk eine "Masse", die "feminin" veranlagt und deshalb nur gefühlsmäßig zu beeindrucken sei. Minister Goebbels setzte dieses Prinzip exzessiv um und füllte vor allem Kinder und Jugendliche mit emphatischer Gefühlsrhetorik von deutscher Ehre und Treue ab.

Nach Bismarck, Kaiser und Hitler hatten die Deutschen genug von emotionaler Überwältigung

In der Bundesrepublik warf diese Form von Gefühlspolitik nach dem Krieg lange Schatten. Nicht nur der "hölzerne Kanzler" Konrad Adenauer war ihr abhold, sondern auch die jüngere, "skeptische Generation" verschloss sich emotionaler Überwältigung. Selbst als sich die Schatten verkürzten und eine neue protestbereite Generation die politische Bühne betrat, stellte sie die normative Kraft des sachlichen Argumentierens und Diskutierens nicht in Abrede. Aber sie betonte auch das, was Max Weber politische Leidenschaft genannt hatte und was ihr im technokratischen Politikstil der 1970er- und 1980er-Jahre fehlte.

Nach dieser Leidenschaft für eine Sache, an die man glaubt und die man argumentativ begründen kann, sehnen sich offenkundig auch heute viele Deutsche. Das spiegelt sich in der derzeitigen Flüchtlingssituation. Der Wunsch zu helfen mischt sich mit dem Stolz, in einem Land zu leben, das für andere ein Zufluchtsort sein will und kann. Zugleich wissen Bürger ebenso wie Kanzlerin, dass Deutschland nur so lange Zuflucht und Lebensperspektiven bieten wird, wie es seine arbeits-, sozial-, bildungs-, rechts- und sicherheitspolitischen Standards aufrechtzuerhalten vermag.

Es ist die Aufgabe der Regierung, diese Standards zu gewährleisten, mit Passion und Augenmaß. Weder vor noch nach Köln aber sollte sie denjenigen nachgeben, die in demagogischer Absicht Ängste schüren und den Kollaps beschwören. Sie sind es, die Gefühlspolitik betreiben, und ihnen wünschte man einen kühleren Kopf.

Ute Frevert ist Historikerin und Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Vergängliche Gefühle".

Serie "Was ist deutsch?": Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

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Was ist deutsch?

Die Serie "Was ist deutsch?" behandelt Facetten und aktuelle Fragestellungen deutscher Identität. Erschienene Artikel:

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